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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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schneller raste sein Herz. Was war das? Er presste die Hand fest in seinen Schritt, musste sich beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Der erste Höhepunkt seines Lebens.
    Zitternd lehnte er an dem Wagen, während Sina die Arme hob, einen letzten Blick auf ihre ästhetischen Brüste bot und das bereitliegende Nachthemd über den Kopf streifte. Kurz danach erlosch das Licht. Mit wackligen Knien sprang er vom Klotz, rollte ihn von der verräterischen Stelle weg und machte sich benommen auf den Weg nach Hause. Ein Gefühl von Glück und eigenartiger Schwäche durchströmte ihn, hoffentlich begegnete er jetzt niemandem, die Aufregung war ihm ins Gesicht geschrieben.
    Er hielt die heiße Haut in den kühl aufkommenden Nachtwind, der das trockene Laub raschelnd vor sich hertrieb und spürte, wie sich seine erregten Gedanken langsam beruhigten. Er schämte sich, Sinas Intimität ausgenutzt zu haben. Das heimliche Beobachten kam ihm jetzt wie Verrat an ihr vor. Und dennoch war das Erlebnis, der Reiz, der von dieser unbemerkten Betrachtung ausging, so stark, dass er über Scham und Gewissensbisse siegte und wohl immer siegen würde. Schon damals wurde ihm unbewusst klar, dass dies eine Schwäche im Leben sein würde, obwohl er früh bemüht war, jede, die aufkam, auszumerzen. Nach Lavinias köstlichen Plätzchen, die ihn alle Vorsätze brechen ließen, war dies eine zweite, der er nicht Herr zu werden fürchtete. Er nahm sich fest vor, das, was er heute getan hatte, nie mehr zu wiederholen. Augenblicklich fühlte er sich besser. Dann fiel ihm ein, dass er Sina nun nie mehr so unbefangen begegnen könnte wie bisher. Der Gedanke verursachte Bauchschmerzen, sie nach diesem Erlebnis wieder zu sehen. Ob sie ihm etwas anmerken würde?
    Noch immer zitterten seine Beine leicht. Er setzte sich auf einen Holzstapel, die Bretter fühlten sich noch warm an, hatten die Sonne des Nachmittags gespeichert und dachte nach. Sein Blick streifte das wuchtige Hauptzelt, das ›Chapiteau‹ wie es Zukolowski nannte, weshalb ihm die Artisten das Wort als Nickname verpassten. Jedenfalls gebrauchte Harry, der schon in Amerika gewesen war, diesen Ausdruck. Wunderschön und geheimnisvoll wirkte die Beleuchtung des ,Chapiteaus’ gegen den nächtlichen Himmel. Tausende Lämpchen zeichneten die Konturen des riesigen Zelts, die bunten Fähnchen, die geschwungene Schrift und abfallenden Flanken nach, eine prächtige Illumination, die ihm jedes Mal das Herz weit machte, wenn er sie sah.
    Aber ein Zirkus besteht nicht nur aus Illumination, Kunst und Romantik. Es gibt auch die Seite, die dem begeisterten Zuschauer verborgen bleibt. Tod von Mensch und Tier, persönliche Schicksalsschläge, die keinen Auftritt mehr erlauben, Katastrophen wie das Verbluten seiner Mutter im Zirkuswagen, finanzielle Sorgen, wenn das Gastspiel nicht einmal die Kosten für Platzmiete und Futter einspielt, Missgunst auf den Erfolg anderer. Dazu der nicht einfache Umgang unterschiedlichster Menschen auf engstem Raum, eingesperrt in eine wandernde Zeltstadt ohne festen Ort und schützende Palisaden. Eingebettet in die strenge Zirkushierarchie des reisenden Kosmos, der vor keinem Leid, keiner Niederlage halt machen darf. Vieles hatte er miterlebt. Wenn seine tierischen Freunde morgens tot im Käfig lagen, an Gegenständen verendet, die Besucher ihnen während der Tierschau zuwarfen, das edelste Pferd an einer Kolik starb oder erschossen werden musste, Artisten verunglückten, Arbeiter sich verletzten, wie Jonas, der ihm immer das dichte Haar durchwuschelte. Er konnte einem schlecht verankerten Gittermast nicht schnell genug ausweichen und wurde erschlagen.
    »Der Zirkus ist eine einzige Familie«, sagen alle, aber wie in jeder Familie gab es auch hier Auseinandersetzungen, die den Ablauf störten und geklärt werden müssten. Oft konnte er selbst in solchen Fällen schlichten und beruhigen. Er kannte ja alle und sie mochten ihn. Natürlich gab es unverzeihliche Verstöße, wenn jemand stahl, Kameraden betrog, Eifersuchtstaten und sexuelle Übergriffe erfolgten. Ehernes Zirkusgesetz war es, diese Entgleisungen selbst, sozusagen innerfamiliär, zu lösen und angemessen zu bestrafen, bis hin zum Ausschluss aus der Familie. Er war erst wenige Jahre alt, konnte sich aber noch gut an die Aufregung erinnern, als Sissy, das Schlangenmädchen, von einem der Vorhutarbeiter überfallen, verletzt und vergewaltigt wurde. Noch am selben Abend verschwand der Täter spurlos und tauchte nie mehr auf,

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