Mattuschkes Versuchung
obwohl Geld und Sachen zurückblieben. Da es ein Herumtreiber war, von dem man den richtigen Namen nicht kannte, fragte keiner nach ihm, auch die Polizei nicht. Später erzählte Gregorius nach heftigem Gelage, man habe ihn im Kofferraum eines Schrottautos zusammenpressen lassen. Ob es tatsächlich so war, ließ sich niemand je entlocken. Dagegen mutete die Geschichte von Imre, dem ersten Trompeter des Zirkusorchesters, einem Ungarn, dem ein gehörnter Ehemann heimlich in die Trompete schiss, geradezu harmlos an, obwohl er, der kleine Heinz, es damals als schändliches Verbrechen empfand.
Boris Plonsky kam mit schweren Schritten vorbei, grüßte kaum und heftete seinen mürrischen Blick auf den unebenen Boden des Geländes. Man hörte ihn schon lange, bevor man ihn sah, an seinem ständigen Husten.
»Wie geht’s Boris, hab dich länger nicht gesehen?«
»Hast auch nichts versäumt«, war die brummige Antwort. Er musste lachen, der Feuerschlucker war der einzige, dessen unfreundlich mürrische Art selbst er nicht zu knacken wusste. Ein typischer Einzelgänger, Eigenbrötler und Menschenhasser, er lebte in seiner Feuerwelt und war, wie Medusa glaubte, mit dem Teufel im Bund.
»Riechst du nicht, dass er nach Schwefel stinkt?«, wollte sie ihn einmal überzeugen. Als Kind war er daraufhin tatsächlich in den Wohnwagen geschlichen, um an dem schnarchenden Riesen zu riechen. Aber außer Benzin- und fürchterlichem Schweißgeruch war ihm nichts Höllisches aufgefallen. Als er wieder hinauskriechen wollte, entdeckte ihn Boris, verpasste ihm eins auf den Hosenboden, hielt ihn mit seiner kräftigen Faust in die Höhe und versprach ihm: »Wenn ich dich noch einmal in meinem Wagen erwische, du Knirps, dann werfe ich dich auf die Spitze des Hauptzeltes, wo du bei Wind und Wetter hängen bleibst, bis die Männer es wieder abschlagen.« Dann ließ er ihn in eine riesige Tonne fallen, aus der er erst Stunden später befreit wurde. Heinz hatte keinen Zweifel, dass er seine Worte in die Tat umsetzen würde und mied ihn fortan wie die Pest. Boris war Russland-Deutscher, was er früher gemacht hatte, war nicht aus ihm herauszubekommen. Zukolowski hing in besonderer Weise an ihm. Wer weiß, welche Dienste ihm der verschwiegene Herkules schon erwiesen hatte. Er war zwei Meter groß, hatte die Brust eines Gorillas, wog mehr als zweieinhalb Zentner, ohne fett zu wirken. Die Brust war mit schwarzem Kraushaar bedeckt. In seinen unheimlich blickenden Augen unter vorgewölbten Brauen, schien ständig ein Feuer zu lodern. Als Kind dachte er, Boris bewahre das für seine Kunststücke verwendete, dort auf.
Im Zirkus trat er als Boris Pyrophoris, die lebende Fackel auf und war eine Sensation. Er betrat die Bühne wie Aladin mit der Wunderlampe, in Pumphosen, Schnabelschuhen, einem breiten Gürtel um die Hüften und freiem Oberkörper, nachdem er sein Bolero ähnliches Lederwams mit theatralischer Geste in die Manege geschleudert hatte. Zwei Fackeln mit langen, zitternden Flammen brannten neben ihm. Er griff nach einem Becher, wandte sich kurz ab, nahm einen kräftigen Schluck, hielt eine Fackel vor den Mund und stieß unter dem überraschten Aufschrei des Publikums meterlange Feuerzungen aus, die jedem Drachen zur Ehre gereicht hätten. Der aufgenommene Vorrat an brennbarer Flüssigkeit schien riesig zu sein, denn er wiederholte das Schauspiel mehrmals, ohne erneut zum Becher greifen zu müssen. Zum Schluss spie er zur Verwunderung des Publikums Feuerstöße in der Form miteinander verbundener Herzen. Dann spülte er den Mund mit Wasser, ließ Flammen auf der fettglänzenden Haut seiner Oberarme tanzen, warf brennende Fackeln wie ein Jongleur durch die Luft, spie wieder Feuer in gelber und dunkelroter Farbe und löschte die Fackeln am Schluss in seinem weit aufgerissenen Rachen. Anschließend stank das Zelt nach Rauch, Paraffin und versengten Haaren, das Publikum aber tobte. Er verbeugte sich kurz, ließ noch einmal die Muskeln spielen und verließ die Manege ohne Lachen oder freundlichen Blick.
Wenn Boris Alkohol trank, was nur gelegentlich nicht vorkam, schnarchte er wie eine Armee nach heftigstem Kampfeinsatz. Es ist nicht erfunden, dass Mira Bellenbaum, eine neue Artistin, die sich in der Nähe seines Wagens aufhielt, wirklich glaubte, das ohrenbetäubende Fauchen und Schnarchen stamme von einem entlaufenen Löwen. Erst nachdem sie das ganze Lager verrückt gemacht hatte, weil man zunächst verstand, sie habe den Löwen gesehen und nicht
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