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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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es sei zu gefährlich. Daraufhin ließ er ihn mit Messern trainieren, sicher auch nicht ungefährlich, er warf nicht schlecht, aber zu unbeständig. Selbst nach mehr als einem Jahr zeigte sich weder Konstanz noch Verbesserung. Auch die Jonglage mit Keulen, Tellern, Diabolos oder Bällen war nicht seine Sache. Trotz des Verbots schlich er immer wieder zu den Löwen und war oft unerlaubt im Käfig dabei, wenn Ricardo mit ihnen übte. Beide liebten die Tiere. Jedes Mal beim Training und während der Vorführung standen Assistenten mit der Gabel bereit, notfalls einzugreifen, etwa, wenn Ricardo auf den Boden fallen sollte. Sie hatten vor allem auf seine Rückenseite zu achten. »Eins musst du dir merken Heinz«, sagte er nach einer Trainingsstunde, in der es ihm schwer fiel, sich wie gewohnt zu konzentrieren. Er hatte schlechte Nachrichten von seiner Mutter erhalten, die sich einer gefährlichen Operation unterziehen musste und gerade unter dem Skalpell lag: »Du darfst dem Tier an keinem Tag Launen zeigen, es muss sich hundertprozentig auf dich und deine Performance verlassen können, sonst verliert es sein Vertrauen.«
    »Du meinst, wenn du grundlos zornig wirst oder es tadelst, obwohl es nicht berechtigt war?«, fragte er.
    »Genau, dann werden die Tiere misstrauisch und verlieren den Respekt vor dir.« Er lachte und fuhr ihm durch die Haare wie eine Löwenmähne.
    »Die kennen dich besser als du glaubst, denen kannst du nichts vorspielen, das musst du dir immer wieder sagen, aber was soll’s, du bist ja selbst ein halber Löwe, Heinz.«
    Vorübergehend half er Morello, dem Clown aus, was ihm Spaß bereitete, aber keine Zukunft versprach. So blieb sein Vater in abwartender Haltung, wie er es ausdrückte, um seine Entwicklung zu beobachten. Er half gerne, wo Hilfe gebraucht wurde, bei den Elefanten, Löwen, Tigern, Affen und Zebras. Am liebsten allerdings bei den Pferden mit der Aussicht, Sina zu sehen und ein paar Worte mit ihr wechseln zu können. Inzwischen ritt er zwar ganz passabel, aber ob er das Talent hätte, einmal Kunstreiter zu werden, war nicht einzuschätzen. Er füllte Futter und Wasser in die Tröge, half beim Ausmisten, sprang überall ein, wo Hilfe gebraucht wurde und fuhr häufig mit der Vorhut voraus, um die Unterkünfte für die Tiere, das Küchenzelt und das der Bäckerei aufzubauen, mit Futter und Vorräten zu bestücken, damit die hungrigen Arbeiter und Ankömmlinge sich sättigen konnten. Es waren robuste Gestalten, die den Aufbaujob ausführten. Ihre Oberarmmuskeln konnten jedes T-Shirt sprengen, wenn sie es darauf anlegten. Sie schlugen mit schweren Hämmern die Pflöcke ein, richteten Masten und Balken mit Seilwinden auf, zurrten und verankerten die Taue, damit die Zelte sicher standen und windigem Wetter trotzen konnten. Sie kannten jeden Handgriff, wussten alle auftretenden Probleme zu lösen, montierten Gradin, Logen, Scheinwerfer und die Geräte für Trapezflieger und Artisten am Vertikalseil.
    Alles vollzog sich in einem hämmernden Gleichklang, lauten Kommandos, Fluchen, Rauchen und Spucken von Tabaksaft. Ihm, den alle mochten, war bald kein Fluch oder Schimpfwort mehr fremd, auch wenn er von vielen nicht die Bedeutung kannte. Abends spielte er heimlich Poker mit ihnen. Die, die ihn anfangs geringschätzig belächelten, wurden schnell eines Besseren belehrt. Hier kam ihm seine Fähigkeit, in ihren Kopf zu schauen, Reaktionen vorauszuahnen, ideal zu Gute. Half Bluff den meisten, ihre Mitspieler zu verunsichern, bewirkte er bei ihm das Gegenteil – er wurde zu einem verräterischen Werkzeug, dessen er sich gerne bediente, um Gedanken und Karten der Mitspieler wie ein offenes Buch zu lesen. Er verlor sehr selten und auch nur bei außergewöhnlichen Kartenkonstellationen. Schon in jungen Jahren erwarb er sich den Ruf eines eiskalten, fast unbezwingbaren Zockers.
    »Warum übt ihr eigentlich diesen gefährlichen Beruf aus?«, wollte er von den Eltern wissen, »genügt die Zauberei nicht, muss es das Messerwerfen sein?«
    Aus eigener Erfahrung wusste er inzwischen, wie schnell ein Messer ausrutschen und sein präzises Ziel verfehlen konnte. Sein Vater hatte die Spannung inzwischen noch erhöht, indem er sich die Augen verbinden ließ und auf die drehende Scheibe warf. Ein Risiko, das Heinz zu hoch einschätzte.
    »Merke dir, mein Junge, in der Manege sind deine Eltern ein beachtlicher Prozentsatz. Wir, die nicht nur ihr Können, sondern auch den Nervenkitzel des Risikos verkaufen. Dafür

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