Mauer, Jeans und Prager Frühling
übernehmen …« Lutz war kein Nassauer. Es war, wenn man selbst über Bares verfügte, selbstverständlich, ihm einfach einen auszugeben. Wer ihn kannte und schätzte, tat das gern. Er war ein vielseitiger Mensch, aber sehr labil. Ich habe von ihm beeindruckendeZeichnungen gesehen, die er mit sechzehn gemacht hat. Lutz hatte auch Talent zum Schreiben, aber er liebte vor allem die Atmosphäre der Wirtshäuser, die Gesellschaft, die Gespräche in Kneipen und Kaffeehäusern. Er konnte mit allen reden, ob Arbeiter oder Student, Buchhalter oder Handwerker, Wissenschaftler oder Künstler, unterhielt sich stundenlang mit Menschen, die eine besondere Sicht auf das Leben hatten.
Lutz rauchte gegen Ende seines Lebens sechzig Karo am Tag. Dazu kamen Bier und Schnaps. All das hat ihn schließlich ruiniert. Krebs lautete die Diagnose der Mediziner.
Regisseur hatte er werden wollen. Theologie studierte er. Er hat noch, wie er mir erzählte, mit zitternden Knien seine Probepredigt auf der Kanzel der Universitätskirche gehalten. Mit seiner Lebenseinstellung war er natürlich für ein kirchliches Amt nicht geeignet. Sein Vater hatte ihm ein Vermögen hinterlassen, und er studierte dann »privat« im Zweitstudium Kunstwissenschaft, mußte jede Prüfung bezahlen. Mit 20 Jahren begann er zu studieren, mit 34 Jahren war er fertig. Sein Doktorvater reichte die umfangreiche Diplomarbeit, an der Lutz Lippold zwei Jahre gearbeitet hatte, als Dissertation ein. Das Promotionsverfahren wurde nicht eingeleitet, da es keine »gesellschaftliche Notwendigkeit« gäbe, diesem ewigen Studenten zum Doktorhut zu verhelfen. Ein Leben lang arbeitete er für ein Buch, verbrachte seine Tage (allerdings begann der Tag für ihn erst am Mittag) in der Deutschen Bücherei. Er las sich durch Bücherberge: über die Macht des Bildes, das Bild der Macht. Zu diesem Thema beendete er nach schier unendlichen Recherchen 1989 schließlich das Manuskript zu einem Buch, obwohl schon niemand mehr daran geglaubt hatte. Allerdings erschien der Band zu ungünstiger Zeit, 1993. Im gesamtdeutschen Bücherdschungel ging er als Ostbuch unter, wurde schließlich verramscht. Das erlebte Lutz Lippold noch.
Den Bart hatte er sich seit dem 13. August 1961 stehenlassen,seine Form des Protestes. Eigentlich hätte er ihn nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 abnehmen müssen, aber da hatte er sich über die Jahrzehnte doch zu sehr daran gewöhnt, war der Bart sein äußerliches Markenzeichen geworden.
Als ich nach Leipzig kam, war Lippold schon eine Institution in der Szene, die damals noch nicht so genannt wurde. Wer ihn nicht kannte, gehörte nicht dazu.
Lutz Lippold starb 1996, er war 56 Jahre alt. Ein kluger, witziger, sensibler Mensch, ein Bohemien, und wohl der letzte ewige Student in der DDR.
Bansin
Wenn wir seinerzeit Spaß hatten, nannten wir das »Feez«, wenn es etwas temperamentvoller zuging, machten wir »Deebs« und zogen mit unserer Clique, aus der natürlich sächsisch eine »Gliehge« wurde, eine »Schaffe« ab. Das war dann »ne gleene Schau!« oder »ne gleene Welt!«. Eben »einsame Sahne!«.
Während in den fünfziger Jahren noch keine englischen Begriffe im Sprachgebrauch erschienen, änderte sich das schlagartig mit dem Herüberschwappen des Rock ’n’ Roll in die beiden deutschen Staaten. Selbst in meinem Tagebuch tauchen bei den Eintragungen Mitte der sechziger Jahre englische Wörter auf … nettes girl kennengelernt … klappt alles very good … eine Mischung von Angeberei und Übernahmen durch die Musik. Englische Spitznamen bei Jungs und Mädels wurden häufiger.
1965 war die Stimmung in Sachen Musik besonders angeheizt. Die ostdeutschen Jugendlichen wollten auch ihren Beat. Mit Thomas Köhler war ich in jenem Jahr auf einem Zeltplatz in Bansin. Ich lernte dort im Bierzelt einen jungen Mann vom Fernsehen kennen. Er hatte seine Gitarre dabei. Ein Klavier stand da. Unangemeldet und unabgestimmt fingen wir beide an, aus lauter Lust Musik zu machen. Ich sang, besser schrie, alle Rock-’n’-Roll-Titel, die ich mit meinem phonetisch nachahmenden Englisch drauf hatte. Also: »King Creole«, »Jailhouse Rock«, »Tutti frutti …«. Wenn man laut genug singt, gehts auch ohne Mikrofon.
Die Massen tobten.
Hunderte Jugendliche schrien, klatschten. Draußen war inzwischen ein Unwetter aufgezogen. Es regnete mir aufs Klavier. Ich drosch auf die nassen Tasten ein. Dem Chefdes Bierzeltes wurde es blümerant. Wir sollten aufhören. Die Massen
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