Max Weber (German Edition)
zum «bürgerlichen Mittelstand» als «Träger» der von ihm untersuchten Sinndeutungen, die im Zeitverlauf eine «Gesinnung» manifestierten, die ihrerseits als «Produkt eines lang andauernden Erziehungsprozesses» von Weber dargestellt wurde.
Abb. 1: Die Ebenen der Kulturbedeutung des Protestantismus bei Max Weber
Der für Weber fesselndste Aspekt dieser Entwicklung waren dabei die Prozesse der unbeabsichtigten Loslösung dieser subjektiven Sinndeutungen von den Handelnden und deren Verfestigung zu verbindlichen Normen (ökonomischen) Alltagshandelns. Erst diese sich hier abzeichnende Dialektik von geistigen Triebkräften («subjektiv gemeinter Sinn») und den sich organisierenden sozioökonomischen Strukturen («moderner Kapitalismus») ließen die «Kulturbedeutung» von (religiösen) Ideen ins Blickfeld geraten. Der subjektiv gemeinte Sinn war bezogen auf den Einsatz von Mitteln zur Erlangung des Heils oder vielmehr: zur Dokumentation seiner Gewährung – er wurde zu einem objektiven Sinnzusammenhang durch sein Zusammentreffen mit den sich herausbildenden Organisationsformen modernen kapitalistischen Wirtschaftens. Auf diesem Boden konnten sich die Aggregate subjektiven Sinns zu allgemeinen Normen gesellschaftlichen Handelns herausbilden, die sich ab da von ihren religiösen Entstehungszusammenhängen lösen konnten. Der moderne Kapitalismus, einmal zur herrschenden Wirtschaftsform gelangt, brauchte nicht mehr länger das Vehikel religiöser Überzeugungen zu seiner Legitimation – ja er konnte sich sogar gegen diese wenden! Unter bestimmten Bedingungen können so Ideen Wirkungen hervorrufen, die ihrerseits zu Ursachen der Zerstörung ebendieser Ideen werden können.
Die Prozesse der historischen Wirkung von Ideen auf das Handeln von Individuen und Gruppen sind dabei nicht gesteuert von irgendwie gearteten «Sachzwängen», sondern es sind primär handelnde Menschen, d.h. intentionale und reflexionsfähige Individuen, die diese Prozesse in Gang setzen. Andererseits sind diese subjektiven Sinndeutungen keine ursachelosen Größen, sondern entstehen auf der Folie konkreter, materieller Bedingungszusammenhänge. Weder kann sich ein moderner Kapitalismus ohne eine ihm entsprechende Ethik ausbilden, noch kann sich diese Ethik etablieren, ohne dass sie durch den Kapitalismus gestützt wird. Die historische Wirklichkeit wird in diesen Untersuchungen als eine vom Handelnden beeinflussbare und konstruierte gesehen, sie tritt ihm gleichzeitig als Bedingung und Begrenzung seiner Handlungsmöglichkeiten gegenüber. Am Ende seines Lebens und damit des Nachdenkens über diese Zusammenhänge formulierte Max Weber: «Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‹Weltbilder›, welche durch ‹Ideen› geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.»
Über die methodologische Bedeutung der Weber’schen Protestantismus-Studien ist ebenso vieles und Kontroverses geschrieben worden wie über deren soziologische Relevanz. Tatsache ist, dass Weber in diesen Arbeiten ein Konzept vergleichenden und idealtypischen Vorgehens seiner Analyse zugrunde legen konnte. Dass Weber selbst die Einseitigkeit seiner Fragerichtung in diesen Studien deutlich vor Augen hatte, wurde hervorgehoben. Und noch ein Moment dieser Arbeiten hat eine nachhaltige methodologische Bedeutung: die Prämisse, dass der subjektiv gemeinte Sinn einzelner handelnder Individuen, über die Aggregation in sozialen Gruppen, ein zentral wichtiger Bestandteil sozio-ökonomischer Wirklichkeit und daher für das wissenschaftliche Verstehen von ebenso großer Bedeutung ist. Das soziale Handeln von Menschen wurde zum Ausgangspunkt der Methodologie einer «Verstehenden Soziologie», die bis heute mit dem Namen Max Weber und dessen Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus verbunden ist.
Insgesamt ist festzuhalten, dass wir es mit einer der zentralen Paradoxien der bisherigen Weber-Rezeption zu tun haben: Zum einen sind gerade diese Arbeiten Webers über den konstruierten Zusammenhang von protestantischer Ethik und einem «Geist» des Kapitalismus seine unstrittig wirkungsvollsten Texte, die er nicht nur dem klassischen Erbe der Soziologie vermachte, sondern dem Bestand bedeutender großer Erzählungen der Menschheit, mit der sich diese seit über hundert Jahren einen Reim auf ihre Geschichte und Zukunft zu machen sucht. Zum anderen sind diese Arbeiten ein
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