Maya und der Mammutstein
Mädchen sei, weil sie Altem Zauber nicht in jeder Hinsicht gehorchte, weil sie insgeheim das Leben, das sich der alte Schamane für sie ausgedacht zu haben schien, in Zweifel stellte.
Die Dankbarkeit, die sie dafür verspürte, war überwältigend in ihrer rührenden Naivität. Hätte sie sich überhaupt irgendwelche Gedanken gemacht, hätte sie sich vermutlich gewundert, daß sich Geists Verhalten ihr gegenüber so abrupt und vollständig hatte wandeln können. Doch sie grübelte nicht über diese Frage nach, da sie es genausowenig über sich brachte, diese Freundschaft zurückzuweisen, wie sie sich die Luft zum Atmen hätte versagen können. Im Gegensatz zu den Schrammen auf der Brust des jungen Schamanen waren ihre Wunden unsichtbar, indes nicht weniger tief, nicht weniger schmerzend, und überdies schlecht verheilt.
Hätte sie sich nach dem Grund für Geists plötzlichen Sinneswandel gefragt, hätte sie auch seine Freundschaft in Frage stellen müssen, und dessen war sie ein fach nicht fähig.
Sie hatte in der Tat den einzigen Schatz, den sie besaß - um die zukünftige Macht, die Zauber ihr prophezeit hatte -, auf dem Altar dieser Freundschaft geopfert, weil das, was Geist ihr bot, wirklich war, nicht irgendein Traum von einem entfernten Morgen, der irgendwann einmal -
oder eben auch nicht, wenn ihre bisherigen Erfahrungen irgend etwas taugen sollten - wahr werden könnte. Und so verspürte sie bei seinem Anblick wohlige Erregung, erfreute sich daran, wie seine Zähne in der Dunkelheit aufblitzten, genoß den leisen gedämpften Klang seiner Stimme.
»Kannst du reden?« flüsterte er.
Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Dann strengte sie ihre Ohren an. Aus dem Geisterhaus hinter ihr vernahm sie leise, gedehnte Schnarchlaute. Ein anderer ( hätte diese Laute vielleicht gar nicht gehört oder sie für etwas anderes gehalten, doch sie hatte nun eine ganze Weile mit die sen Geräuschen gelebt - zumindest lange genug, um sie, fast ohne nachzudenken, erkennen zu können.
»Er schläft«, entgegnete sie. »Eine Weile jedenfalls. Trotzdem kann ich nicht lange bleiben.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nur einen kleinen Spaziergang hinunter zum anderen Ufer des Ersten Sees. Weit genug weg, daß wir reden können. Ich habe darüber nachgedacht, was du mir heute erzählt hast. Ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden. Möchtest du sie hören?«
Sie blickte zu ihm auf, sah sein schmales Gesicht, sein Lächeln, und in diesem Moment wollte sie, was immer er auch zu geben hätte, wollte es mit einem Verlangen, das in seiner Heftigkeit erschreckend war.
»O ja«, keuchte sie. »Ich will es hören.«
Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Ersten Sees, weit weg von dem Glutofen des hohen Klippenwalls, der das Lager schützte, war es ein wenig kühler - doch der Wind, der über den Rand der Klippen fegte, gelangte nicht bis zum See hinunter, wo die Luft vom Duft feuchten Mooses, süßen Schlammes und anderen Gerüchen des Spätsommers erfüllt war. Glühwürmchen funkelten hier unten, schienen kleine gelbe Lichter hochzuhalten.
Sie saßen so nah beieinander, daß ihre Schultern sich berührten, und Geist legte ihr eine Hand aufs Knie. Sie erbebte bei der leichten Berührung seiner Hand und seines warmen Atems, der über ihre Wangen streichelte, als er zu sprechen begann.
»Es geht um den Stein, Maya«, setzte er an.
Ihr Zittern verstärkte sich. Er spürte es und drückte ihr Knie fester. »Hab keine Angst, Maya. Es ist nichts als ein Stück alter Knochen. Zauber ist verrückt, weißt du.«
Maya fuhr hoch. Diese Behauptung war so ungeheuerlich, daß sie Geists Finger völlig vergaß. »Was?« wisperte sie. »Was sagst du da?«
»O ja«, fuhr er mit sanfter, ruhiger Stimme fort. »Ein böser Geist, vielleicht der Geist eines Menschen des neuen Volkes hat von ihm Besitz ergriffen. Ist dir das nicht aufgefallen?«
Er schwieg einen Augenblick, um dann, als begreife er erst jetzt, daß sie nicht antworten würde, in demselben einschmeichelnden Ton fortzufahren. »Nun, vielleicht auch nicht. Für mich jedenfalls ist es so klar zu erkennen« - er kicherte - »wie die Nase in deinem Gesicht. Sieh ihn dir doch an. Seine Hände - hast du nicht bemerkt, wie sie sich verändert haben?«
Das hatte sie bemerkt; o ja, das hatte sie.
»Und all das andere. Er sagt uns, wir sollen die Feuer löschen, um uns vor diesem neuen Volk zu verbergen. Erscheint dir das nicht seltsam? Wie lange können wir noch so
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