Maya und der Mammutstein
weitermachen? Schon bald wird unser Trockenfleischvorrat zur Neige gehen. Es ist Jagdzeit, aber er will uns nicht jagen lassen. Was sollen wir denn tun? Hungern, bis diese Menschen wieder fort sind? Was passiert, wenn sie überhaupt nicht weggehen?«
Seine Überlegungen waren, das mußte sie zugeben, berechtigt. Sie waren selbst ihr gekommen, als sie auf dem Grunde der Vorratsgrube neben dem Geisterzelt herumgewühlt und herausgefunden hatte, wie wenig Fleisch noch übrig war; sie hatte sich auch schon gefragt, ob sie genügend Beeren und Nüsse würden sammeln können, um den Mangel auszugleichen. Und während sie über all das nachdachte, überhörte sie eine andere Stimme, die ihr sagte, daß etwas nicht stimmte, daß sich etwas Schreckliches im würzigen Duft dieses Abends ausbreitete.
»Alter Zauber ist nicht verrückt«, erklärte sie. Doch, ist er. Er muß den Verstand verloren haben. Und wenn nicht er, dann werde ich ihn verlieren, und zwar schon bald.
Geist legte eine Pause ein, als wäge er jedes Wort sorgfältig ab, bevor er es ausspräche. »Nun, vielleicht ist er nicht richtig gehend verrückt«, verkündete er schließlich. »Doch irgend etwas hat von ihm Besitz ergriffen. Irgendein Geist. Maya, ich wußte schon über den Mammutstein Bescheid. Er hat mir alles erzählt, als ich noch ein Junge war, in den ersten Monden, als ich bei ihm war. Es ist nur ein Schnitzwerk - er hat es selbst gemacht. Ich...« Einer plötzlichen Eingebung folgend fügte er hinzu: »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er es geschnitzt hat, Maya.«
»Das hast du gesehen?« Nun war sie völlig verwirrt. Sie hatte den Stein gesehen, hatte ihn berührt, hatte ihn gar unter ihren Fellen geborgen. Alter Zauber hatte behauptet, daß er alt sei, uralt, doch die geschnitzten Linien waren scharf und deutlich zu erkennen gewesen, wirkten alles andere als alt. Oh, die Farbe des Knochens hatte sich ein bißchen geändert, doch alles in allem sah das kleine Figürchen so aus, als wäre es erst am Tag zuvor entstanden, nicht, als wäre es von Generation zu Genera tion in die Hände des neuen Schamanen gelegt worden, was ohnehin keinen Sinn ergab.
Nichts von alledem macht Sinn. Sie hatte schließlich auch nichts gespürt, als sie das Schnitzwerk in ihren Händen gehalten hatte, nicht wahr? Nein, natürlich nicht. (O doch, ich habe etwas gespürt.) Nicht das geringste.
(Licht.) Doch aus welchem Grunde hätte Alter Zauber sie anlügen sollen?
Warum sollte ihm daran liegen, sie unglücklich zu machen?
Sie konnte keine Antwort auf diese Frage finden - zumindest keine, die plausibler war als die, die Geist ihr anbot, während seine schlanken Finger die Haut ihres Schenkels liebko sten.
Das Gefühl, im Einklang mit sich und der Welt zu sein, löste sich auf wie der Nebel, der einst das Grüne Tal eingehüllt hatte. Gedanken zuckten durch ihren Kopf wie tanzende Gestalten, die immer ein klein wenig außerhalb ihrer Reichweite blieben. Zauber... Geist... dessen Finger... Der Stein war nichts als ein Stein, und sie, Maya, würde nicht zu etwas Schrecklichem werden müssen, zu etwas völlig Einsamem. Geist konnte ihr helfen, er konnte die Geister aus Zauber vertreiben...
(Seine Hände!)
... konnte bewirken, daß all die Qual und die Furcht und die Verwirrung ein Ende nahmen.
Konnte er das? O könnte er es doch nur!
Aber konnte er es wirklich?
»Geist?«
»Was, Maya?«
»Was soll ich tun?«
Lächelnd, lächelnd sagte er es ihr.
KAPITEL VIERZEHN
Das Grüne Tal: 17983 v. Chr.
Maya führte die Tat aus, bevor ihre neugewonnene Entschlossenheit im Licht der Morgensonne vergehen konnte. Sie ließ Geist am Seeufer zurück und begab sich wieder zum Geisterhaus, um sich dort in ihre Decken zu rollen. Doch dann lag sie mit weit geöffneteten Augen da, starrte in die Finsternis, horchte auf die Laute, die Zaubers alter Körper von sich gab. Reglos lag sie da, stundenlang, so wollte es ihr scheinen, bis die Kälte, die ins Geisterhaus zog, ihr anzeigte, daß die längsten Stunden der Nacht nahe waren. Und dann wälzte sie sich, so schnell sie konnte, herum und holte, fast nur auf ihren Tastsinn vertrauend, den eingewickelten Mammutstein aus seinem Versteck unter ihren Schlaffellen hervor.
Nur einen kurzen Augenblick lang hielt sie inne, denn es wollte ihr scheinen, als spüre sie den Herzschlag des Päckchens wie den eines kleinen Tieres in ihrer Hand. Doch dann verging selbst die Empfindung, und sie beruhigte sich damit, daß sie sich das
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