Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maya und der Mammutstein

Maya und der Mammutstein

Titel: Maya und der Mammutstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Allan
Vom Netzwerk:
werden.« Er sprach diese Lüge ohne Stocken aus. Es mochte ja an der Zeit sein, Geist einige Dinge mitzuteilen
    - aber doch nicht alle.
    Noch beim Sprechen verspürte er eine heftige Erregung. Jeder Schamane in der Geschichte des Volkes hatte diesen Moment erfahren, in dem das Herz schließlich einem anderen enthüllt worden war. Diesem Augenblick haftete ein überwältigender Hauch nahender Veränderung an, als komme das eigene Lebenswerk zu einem Ende und alle Verantwortung würde in die Hände eines anderen gelegt. Bis jetzt war das auch immer der Fall gewesen. Das Herz war niemals enthüllt worden - außer in der letzten Handlung, der Einsetzung eines neuen Schamanen.
    Nun würde es nicht so sein. Noch nicht. Alter Zauber beneidete seine Vorgänger um die Schlichtheit ihrer Bürde. Kein anderer Mann vor ihm hatte getragen, was er nun tragen mußte. Er hoffte nur, lange genug am Leben zu bleiben, um es zu erfüllen - und von irgendwoher die Kraft zu bekommen, die er brauchte.
    »Hier«, sagte er. »Sieh das Herz des Volkes.« Behutsam schlug er die letzte Hülle beiseite, um jene Kraft, die das Volk für min destens zweitausend Jahre umgetrieben hatte, den Blicken seines Lehrlings zu offenbaren.
    Geist spürte, wie sein ganzer Körper sich anspannte, als er sich zur Seite lehnte, um besser sehen zu können, was der Schamane in Händen hielt.
    Rauch stieg in seine Augen, so daß sie tränten, und er rückte näher an seinen betagten Lehrer heran.
    Er sah zu Boden und wartete, bis sein Blick sich klärte. Endlos lange, so wollte es ihm scheinen, starrte er dann auf das, was Alter Zauber ihm entgegenstreckte.
    »Es ist klein«, meinte er.
    Alter Zauber nickte. »Große Dinge müssen nicht groß sein«, bemerkte er.
    »Ein winziger Speer kann ein riesiges Mammut töten.«
    Geist stierte den kleinen Gegenstand an. Er glänzte schwach in dem dämmrigen Licht, hatte eine dunkle, warmgoldene Farbe. Die Zeit hatte ihn so dunkel werden lassen. Unberührt von menschlicher Hand seit mehr als zwanzig Jahrhunderten, waren die Details des Schnitzwerks fast genauso ausgeprägt und klar wie an dem Tag, an dem sie geschaffen worden waren.
    Die verkleinerte Gestalt des Mammuts hatte perfekte Proportionen, von den empfindlichen Stoßzähnen bis zu dem winzigen Schwanzende.
    Andeutungen von zottigem Haar waren auf seine Flanken eingeritzt, ebenso die Umrisse kleiner, herunterhängender Ohren. Ein Auge, geschnitzt vor äonenlanger Zeit, sah dem Betrachter entgegen, und einen furchtbaren Moment lang meinte Geist, das Auge blicke ihn an. Doch der Moment ging vorüber, und der kleine Gegenstand war wieder nichts als eine Schnitzerei.
    Doch sogar Geist verstand. In diesem Stückchen Elfenbein wohnte eine unermeßliche Macht. Alter Zauber hatte es das Herz des Volkes genannt, und Geists spirituelle Sinne konnten das stumme Pochen dieses Herzens vernehmen. Das Schnitzwerk war lebendig, erfüllt mit Geistern oder einer gar noch größeren Macht. Es machte ihm angst. Dennoch verlangte es ihn mehr danach, es in seine Hände zu nehmen, als es ihn jemals nach etwas verlangt hatte; er begehrte es mit einer Lust, die so stark war, daß sie ihn erbeben ließ.
    Er beugte sich vor, und seine Finger zitterten.
    »Nein!« Alter Zauber zog die Hände zurück. Dann sprach er mit ruhigerer Stimme: »Ich habe es dir doch gesagt. Niemand darf dies hier berühren.
    Es ist das Herz, und die Große Mutter selbst lebt darin. Erinnere dich der Worte des Liedes.«
    Und wieder begann er leise zu singen: »Dennoch werdet ihr nicht allein auf eure Wanderschaft gehen, denn ich werde mit euch sein.« Er hob den Blick, um Geist in die Augen zu sehen. »Sie ist mit uns, in diesem Stückchen Elfenbein, das sie mit ihren eigenen Händen gemacht und dem ersten Schamanen gegeben hat. Es ist geheiligt, Geist. Wenn du es berührst, wird sie uns für immer verlassen. Dann wird das Volk wahrhaft verloren sein. Begreifst du?«
    Geist nickte. Er begriff. Wenn die Große Mutter sagte, daß sie ihr Volk wegen einer solchen Sünde verlassen werde, dann würde sie das ohne Zweifel auch tun. Das einzig Erstaunliche an der Sache war, daß sie so klare Anweisungen gegeben hatte.
    Alter Zauber spürte, daß ein Wandel in seinem Lehrling vonstatten ging, bemerkte die Ehrfurcht, die ihn erfüllte. Er wartete, bis der Jüngere sich wieder gefaßt hatte. »Sie ist immer mit uns gewesen«, fuhr er fort. »Und sie wird bei uns bleiben, wie sie es versprochen hat, wenn wir ihre Gebote

Weitere Kostenlose Bücher