Maya und der Mammutstein
aufgeschlagen; das Lager des Volkes hatte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit ausgebreitet. Nun lärmte und raufte und kreischte eine neue Generation von Kindern - viel, viel mehr, als er sich jemals hatte vorstellen können - um ihn herum.
Noch weiter weg, auf dem anderen Ufer des Ersten Sees, waren gar noch weitere Zelte errichtet worden. Hatte das Volk einstmals weniger als die Hände von zehn Männern gezählt, lebten nun mehr als doppelt so viele.
Das Volk gedieh - das war für ihn klar und deutlich zu erkennen. Das Leben und die Menschen änderten sich.
So waren sie zum Beispiel fetter geworden. Einst ein an Härte und Entbehrung gewöhnter Stamm, der nur angehalten hatte, um Kraft für die nächste Wanderung zu sammeln, waren die Männer und Frauen das Volkes so hager gewesen, daß man jede Rippe einzeln hatte zählen können. Doch hier im Sonnenschein konnte er den Unterschied sehen; die Knochen waren verschwunden, versteckt unter neuen Fettpolstern.
Das hatte das Grüne Tal bewirkt, von dem alle gehofft hatten, daß es das neue Zuhause werden würde. Alle hatten bei der Erkenntnis aufgeatmet, daß die Große Wanderung ein Ende gefunden hatte, als sei eine schwere Last von den gebeugten Schultern der Stammesmitglieder genommen worden. Obwohl niemand die unglaubliche Zeitspanne voll ermessen konnte, war das Volk fünfundzwanzig Jahrhunderte lang umhergezo gen.
Das Wissen, daß nichts für die Ewigkeit gemacht war, war ihnen eingegeben gewesen, ihr Zuhause war stets die nächste Landerhebung oder der nächste ferne Gebirgszug gewesen, kaum am Horizont auszumachen. Nun war das vorüber.
Geist biß die Zähne aufeinander, und sein Ärger wuchs. Wo blieb Speer?
Der Jäger würde den Gipfel seiner Manneskraft bald überschritten haben, aber immer noch führte er die Jagd an. Er würde es wohl noch ein paar weitere Winter machen, dachte Geist, bevor er seinen Speer niederlegen und sich an die heiligen Feuerstellen vor dem Haus des Mysteriums setzen würde. Geist hielt den jungen Wolf, den Sohn von Stein und Haut, für am ehesten geeignet, die Nachfolge Speers anzutreten. Obwohl erst vierzehn, war der Junge doch schon sehr reif, und seine Geschicklichkeit bei der Jagd war beinahe schon legendär. Erst vor ein paar Monaten, gleich nachdem er in den Kreis der Jäger aufgenommen worden war, hatte er einen ausgewachsenen Bison erlegt, dessen mächtige Hörner so weit auseinanderstanden, wie der Körper des jungen Bürschchens lang war, und das mit nur einem einzigen Speerwurf. Und er hatte es ganz allein getan.
Wolf war im Auge zu behalten. Geist hatte interessante Dinge mit ihm vor.
Dann war da noch Maya, Wolfs Schwester. Auch mit ihr hatte Geist Interessantes vor. Er hatte sich noch nicht genau überlegt, wie er diese Pläne in die Tat umsetzen würde, doch er hegte keinerlei Zweifel, daß er dies früher oder später schaffen würde. Alter Zauber konnte nicht ewig leben.
Er leckte sich die Lippen.
Wo steckte Speer nur?
»Stopf das Moos da hin«, sagte Alte Beere. Sie war in den Wald davongestapft und mit reichlich von dem weichen grauen Moos in den Händen zurückgekehrt. Nun zeigte sie ihrer Schutzbefohlenen mit einigen erfahrenen Griffen, wie sie es benutzen mußte. Nach einer Weile richtete Maya sich auf. Ein zweifeln der Ausdruck machte sich auf ihren Zügen breit.
»Bist du sicher, Alte Beere?«
Beere seufzte erneut. Wie hatte sie es nur versäumen können, vorher mit Maya darüber zu reden? Das Alter, vermutete sie. Manchmal kam es ihr so vor, als könne sie sich an Dinge aus ihrer längst vergessenen Kindheit besser erinnern als daran, was sie gerade gegessen hatte.
»Ich bin mir sicher«, bekräftigte Beere mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Du wirst nicht sterben, Maya.«
In Jahren der Unterweisung durch Zauber und Beere hatte Maya viel gelernt, doch noch immer gab es mehr, das sie nicht wußte. Blut bedeutete, verletzt zu sein, krank zu werden, zu sterben. Nun versuchte sie sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß Frauen jeden Monat zwischen ihren Beinen bluteten und das für den größten Teil ihres Lebens tun würden, doch war das schwer zu begreifen.
Sie blickte zu der Älteren hoch. »Warum?« fragte sie einfach.
Beeres Antwort ängstigte sie: »Ich weiß es nicht«, sagte Beere.
Ein neuerlicher stechender Schmerz ließ Maya zusammenzucken. Es war nicht so, daß Beere eine unbefriedigende Antwort gegeben hätte, es war nur schlicht so, daß sie zugab, überhaupt
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