Maya und der Mammutstein
keine Antwort zu haben. Ihr halbes Leben lang war Maya nur von zwei Menschen akzeptiert worden, und beide waren weitaus älter und erfahrener als sie. Bei diesen beiden hatte sie jederzeit ihre kindliche Neugie r befriedigen können. Beere und Zauber waren der Geist des Volkes - seine Erinnerung, seine Weisheit, seine Überlieferungen. Nun spürte Maya, wie ihr felsenfestes Vertrauen in einen von beiden zum erstenmal erschüttert worden war. Es schien also Dinge zu geben, die selbst die beiden Alten nicht kannten.
Eine beängstigende Vorstellung.
Alte Beere konnte fast ihre Gedanken lesen. »Hab keine Angst, Kind«, sagte sie sanft. »Selbst ich weiß nicht alles.« Zögernd fragte Maya: »Und Alter Zauber, weiß er es?« Beere runzelte die Stirn und schüttelte entschieden den Kopf. »Maya. Alter Zauber weiß von diesen Dingen sogar noch weniger als ich. Das ist Frauenmagie, Mädchen. Er ist ein Mann.« Ihre Stimme wurde wieder weicher. »Ein sehr weiser Mann, Liebes, aber eben doch ein Mann.«
Fragen nach den Unterschieden zwischen den Geschlechtern quälten Maya. »Bluten Männer auch so?« Wolf war ihr noch fremder geworden, ging ganz im Lärmen der Männermeute, in Jagd, Waffen, Fischen auf, doch immer noch, von Zeit zu Zeit, sprach er mit ihr. Aber es verletzte sie, wie verstohlen er dabei zu Werke ging. Es war so, als habe er, je älter er geworden sei, schließlich das Tuscheln und die Fingerzeige der anderen akzeptiert, die seine Schwester als etwas anderes, vielleicht sogar Gefährliches bloßstellten.
Über Bluten allerdings hatte er nie auch nur ein Wort gesagt. Alte Beere kicherte in sich hinein. »Nein, Kind, Männer bluten nicht. Nur die Frauen.« Sie unterbrach sich nachdenklich. »Das hat auch eine Bedeutung für dich, verstehst du? Jetzt bist du nicht länger ein Mädchen. Jetzt bist du eine Frau.«
Maya berührte ihr Bein, spürte das in der Sonne gewärmte Fell dort. Sie fühlte sich gar nicht anders als zuvor. Nun also war sie eine Frau, weil rotes Blut aus dem geheimen Ort zwischen ihren Beinen sickerte?
Irgendwie schien das keinen Sinn zu geben.
Doch es gestattete einem kleinen Hoffnungsschimmer, durch den Nebel aus Kummer und Unsicherheit zu dringen. Wenn sie jetzt, obwohl sie nicht ganz verstand, warum oder wie, anders war, vielleicht konnten sich ja dann andere Dinge ebenfalls ändern.
»Dann darf ich also bei den jungen Frauen wohnen, in ihrem Haus?«
Eine schmerzliche Traurigkeit erfüllte Beere. Wie konnte sie dem Mädchen das nur erklären? Es trug die Bürde des Geheimnisses; Maya war für immer gezeichnet, ihr Leben gehörte nicht ihr, doch das durfte die alte Frau ihr nicht sagen. Manchmal verfluchte sie Alten Zauber in der Stille ihrer einsamen Nächte dafür, daß er das Geheimnis an sie weitergegeben hatte. Sie wußte mit all dem angeborenen Verständnis, das Frauen für die Schwächen der Männer haben, daß Altem Zauber damit geholfen war, das Wissen mit ihr zu teilen. Das Wissen, das er ihr eröffnet hatte, war eine Offenbarung gewesen; zuerst hatte sie es überhaupt nicht geglaubt. Doch er hatte es ihr alles gesagt, was an ihn weitergegeben worden war, hatte sogar den Mammutstein enthüllt und ihr seine sanften, gold schimmernden Umrisse gezeigt.
Schließlich hatte sie es akzeptiert, wissend, daß sie sich dadurch für den Rest ihres Lebens dem Geheimnis und also Maya weihte. Die Bürde war schwer, doch unausweichlich. Sie betete stets zur Großen Mutter, daß Alter Zauber noch ein Weilchen lebte. Die Last war schon für zwei zu schwer, geschweige denn für einen allein.
So wie jetzt. Sie konnte der jungen Maya nicht die Wahrheit sagen; nur Alter Zauber durfte das tun, wenn er die Zeit für gekommen hielte. Aber irgend etwas mußte sie ihr nun sagen. Maya war zwar stark, aber Alte Beere glaubte, daß sie immer noch gebrochen werden konnte. Einsamkeit war ein heimtückischer Stachel, Haß eine Waffe, Furcht ein Fluch. In Mayas Leben spielten alle drei eine Rolle; es war erstaunlich, wie gut sie sich trotz allem entwickelt hatte.
»Nein«, sagte sie sanft, »das kannst du nicht. Dir ist ein anderer Weg bestimmt.«
Die Sonne ging zu Speers Linker auf, während er sich langsam zur Spitze der Tundraerhebung etwa sechs Meilen südwestlich vom Eingang des Grünen Tals vorschob. Hinter ihm duckten Haut und Hirsch sich flach in das harte, trockene Steppengras. Hier draußen, nicht mehr im Schütze des Tales, heulte der Wind unablässig, selbst im Hochsommer.
Speer
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