Maya und der Mammutstein
mit heiserer Stimme. »Und zwar sofortl«
Die Angst hockte ihnen im Nacken, während sie unermüdlich durch das Steppengras liefen. Sie brachten eine entsetzliche Nachricht mit sich. Nur Zauber mochte in der Lage sein, sie zu deuten, denn nur der Schamane behauptete, etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben.
Speer hatte nie an die alten Geschichten geglaubt, doch nun tat er es. Er hatte es schließlich mit eigenen Augen gesehen.
Das Volk war nicht länger allein auf der Welt.
Maya stützte Alte Beere, während sie langsam wieder zum Lager zurückwankten. Ihre Blutung hatte aufgehört, und Maya fühlte sich schon viel besser. Das Moos zwischen ihren Schenkeln zu fühlen, war eine fremdartige Empfindung, doch mit der Weile gewöhnte sie sich daran.
Hoch über ihnen zog ein Schwärm Wildgänse vorüber, die dünne Schreie in den Nachmittagshimmel stießen. Ein paar flaumige weiße Wolken segelten gemächlich über das Blau. Die Wälder rochen feucht wegen des Dampfes, der unablässig vom Rauchsee aufstieg und beizeiten als feiner Sprühnebel auf den fruchtbaren Humus niederfiel. Die Pflanzen hier schienen machtvoll aus dem Boden zu drängen, grün und widerstands-fähig.
Maya wußte nicht, wie das Volk gelebt hatte, bevor sie in dieses Tal gekommen waren. Sie nahm die Fülle all dessen, was hier wuchs und kreuchte und fleuchte und davonhuschte, für gegeben; sie gehörte zu einer neuen Generation des Volkes, einer Generation, die nie auch nur einen Tag lang Hunger gelitten hatte.
Alte Beere schien sich in Gedanken verloren zu haben, weit, weit weg von ihr. In letzter Zeit war ihr aufgefallen, daß die alte Frau sich oft in einem solchen Gemütszustand befand. Nicht so schlimm wie bei Altem Zauber, der immer weniger sprach, während die Jahre ins Land gingen, doch ähnlich. Maya fragte sich bangen Herzens, ob die beiden eines Tages ganz zu sprechen aufhören und sie allein zurücklassen würden.
Manchmal indes konnte die alte Frau aus ihren Träumereien gerissen werden - und heute wollte Maya so vieles wissen, daß dies einfach gelingen mußte.
»Warum sprechen die anderen nicht mit mir?« fragte sie.
Beere knurrte, hieb ihren Stock tief in die Erde und machte den nächsten Schritt, sagte jedoch nichts.
»Habe ich irgend etwas falsch gemacht? Ich erinnere mich nicht daran, jemals überhaupt etwas getan zu haben.« Das war nicht ganz wahr; die Erinnerung an Knospes Tod würde sie niemals verlassen, auch nicht an die herzzerreißende Umarmung, in der sie den zerfetzte Körper ihrer Mutter mit Knospes Leiche gefunden hatten - doch die Zeit hatte diese Bilder schwächer werden lassen, und gelegentlich konnte sich Maya gar davon überzeugen, daß sie nur wenig mit ihr zu tun hatten. Überhaupt geschah im Leben nichts, das nicht von den Geistern oder der Großen Mutter, die ihr Tun leitete, bestimmt war. Alles war eine Gabe der unsichtbaren Mächte, die das Volk stetig umgaben - die Guten wie die Bösen.
»Haut will überhaupt nicht mit mir reden.«
Nun schnaubte Beere verächtlich. »Haut ist ein Dummkopf!« erklärte sie.
»Er ist dein Sohn.«
»Aber immer noch ein Dummkopf«, entgegnete Alte Beere. »Er hat keine Ahnung.«
Maya grübelte über diese Feststellung nach. Sie hatte ein helles Köpfchen und eine rasche Auffassungsgabe. Wie es oft bei Kindern geschieht, die in der stillen Gesellschaft älterer Leute aufgezogen werden, hatte sie gelernt, sich auf jedes Wort, das man ihr schenkte, zu stürzen, es immer und immer wieder in Gedanken umherzuwälzen und ihm das letzte bißchen Saft zu entziehen. Maya betrachtete einen vollen Magen als selbstverständlich, nicht jedoch die schlichte Freundlichkeit einer Frage. Oder einer Antwort.
»Wovon hat er keine Ahnung? Von einem Geheimnis?« Die alte Frau blieb überrascht stehen. »Was hast du da gesagt?«
Maya wiederholte ihre Frage. Alte Beere hörte manchmal schlecht.
Gewöhnlich dann, wenn sie es müde war, Fragen zu beantworten.
Maya wurde erneut daran erinnert, wie stechend Alter Beeres erbarmungsloser schwarzer Blick sein konnte, wenn sie sich wirklich für etwas interessierte. Sie wartete geduldig. Schließlich schüttelte Beere kaum merklich den Kopf, als habe sich ein Insekt auf ihre Nase gesetzt, das es zu vertreiben galt.
»Was hat Alter Zauber dir neulich beigebracht?« fragte sie.
Maya war an diese plötzlichen Themenwechsel gewöhnt. Die Alten dachten anders als sie. Die Dinge waren für einen Alten nie unkompliziert. Sie überlegte.
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