Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Fläschchen fertig, wuschen Wäsche; eine sah ich, die las ihrer ungefähr vierjährigen Tochter ein Buch von Dr. Seuss vor, das die Kleine auswendig konnte und mitsprach. Nicht alle Leute, die auf der Straße leben, sind geisteskrankes Gesindel, wie gern geglaubt wird, viele sind einfach arm, alt oder ohne Job, oft sind es Frauen mit Kindern, die verlassen wurden oder vor Gewalt aller Art geflohen sind.
An der Wand der Unterkunft hing ein Plakat mit einem Satz, der sich mir für immer eingeprägt hat: »Ohne Würde ist das Leben nicht lebenswert.« Würde? Ich begriff jäh und mit erschreckender Deutlichkeit, dass eine Drogenabhängige und Alkoholikerin aus mir geworden war. Offenbar glomm noch ein Rest Würde unter der Asche in meinem Innern, ausreichend, dass es mir einen Stich versetzte, als hätte mir jemand ein Messer in die Brust gerammt. Ichbrach vor dem Plakat in Tränen aus, und meine Verzweiflung muss wohl groß gewesen sein, jedenfalls kam sehr bald eine der Betreuerinnen zu mir, führte mich in ihr winziges Büro, gab mir ein Glas kalten Tee zu trinken und fragte mich freundlich, wie ich hieß, was ich nahm, wie oft, wann das letzte Mal, ob ich schon einmal in Behandlung gewesen war, ob wir jemandem Bescheid sagen sollten.
Ich kannte die Telefonnummer meiner Großmutter, ich hatte sie nicht vergessen, aber sie anzurufen hätte sie umgebracht vor Kummer und Scham und außerdem bedeutet, dass ich einen Entzug machen musste und nie wieder etwas nehmen durfte. Daran war nicht zu denken. »Hast du Familie?«, fragte die Betreuerin noch einmal. Ich bekam einen Wutanfall, wie ständig damals, und antwortete ihr mit Verwünschungen. Sie wartete in Ruhe, bis mein Zorn verraucht war, und erlaubte mir dann, die Nacht in der Unterkunft zu bleiben, was gegen die Regeln verstieß, weil man eigentlich nur aufgenommen wurde, wenn man trocken und clean war.
Es gab Fruchtsaft, Milch und Kekse für die Kinder, Kaffee und Tee rund um die Uhr, einen Waschraum, Telefon und Waschmaschinen, die mir nichts nutzten, weil ich nur hatte, was ich am Leib trug. Die Plastiktüte mit meinen paar Habseligkeiten hatte ich verloren. Ich stellte mich lange unter die Dusche, das erste Mal seit Wochen, genoss das heiße Wasser auf der Haut, die Seife, den Schaum in den Haaren, den köstlichen Geruch des Shampoos. Danach musste ich wieder meine stinkenden Sachen anziehen. Ich rollte mich auf meinem Feldbett zusammen, rief leise nach meiner Nini und meinem Pop, bat sie, mich in die Arme zu nehmen wie früher, mir zu sagen, dass alles gut würde, dass ich mir keine Sorgen machen sollte, dass sie auf mich aufpassten, schlaf nur, mein Kind, schlaf gut, mein Schatz, träum schön, mein Augenstern. Schlafen ist mir immer schwergefallen, von klein auf, aber ich konnte mich ausruhen, obwohl die Luft stickig war und viele der Frauen schnarchten. Einige schrien im Schlaf.
Nah bei meinen Feldbett hatte sich eine Mutter mit zwei Kindern eingerichtet, einem Säugling und einem zauberhaften kleinen Mädchen von zwei oder drei Jahren. Die Mutter war eine junge Weiße, sommersprossig und dick und offenbar noch nicht lange obdachlos, jedenfalls schien sie ein Ziel zu haben und Pläne. Als wir uns im Waschraum begegneten, lächelte sie mich an, und ihre Tochter betrachtete mich lange aus ihren runden blauen Augen und fragte mich, ob ich einen Hund hätte. »Früher habe ich ein Hündchen gehabt, das hat Toni geheißen«, sagte sie. Die Frau wickelte gerade den Säugling, da sah ich, dass in einem Fach ihrer Handtasche ein Fünf-Dollar-Schein steckte, und ich bekam den Gedanken daran nicht mehr aus dem Kopf. Als bei Tagesanbruch endlich Ruhe im Schlafsaal einkehrte und die Frau mit ihren Kindern im Arm friedlich schlief, schlich ich zu ihr, kramte in ihrer Tasche und stahl ihr das Geld. Geduckt kehrte ich in mein Bett zurück, wie eine Hündin mit eingeklemmtem Schwanz.
Von allem, was ich in meinem Leben schlecht oder falsch gemacht habe, kann ich mir das am wenigsten verzeihen. Dass ich jemanden beklaut habe, der bedürftiger war als ich, eine Mutter, die mit dem Geld Essen für ihre Kinder gekauft hätte. Das ist unverzeihlich. Wenn man den Anstand verliert, streckt man die Waffen, man verliert alle Menschlichkeit, seine Seele.
Nachdem ich um acht am Morgen einen Kaffee getrunken und einen Muffin gegessen hatte, gab mir dieselbe Betreuerin, die mich am Vorabend aufgenommen hatte, einen Zettel mit der Anschrift einer Entzugsklinik. »Frag nach Michelle,
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