Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
ich nicht mal denken wollte. Kurz darauf entdeckte ich einen zweiten Mann, zwischen fünfzig und sechzig, Bauch, Shorts, bleiche Beine mit blauen Adern, unterwegs zu seinem Wagen, und ich folgte ihm. Bei dem hatte ich mehr Glück … oder weniger, ich weiß nicht. Hätte auch der mich abgewiesen, ich wäre vielleicht nicht ganz so derb abgestürzt.
Wenn ich an Las Vegas denke, wird mir schlecht. Manuel mahnt mich, dass alles erst wenige Monate zurückliegt und meine Erinnerungen daran frisch sind, er versichert, die Zeit werde helfen und ich mich eines Tages über diese Phase meines Lebens lustig machen können. Das behauptet er, aber bei ihm ist es nicht so, er redet nie über seineVergangenheit. Ich hatte gedacht, ich hätte meine Fehler eingesehen, und war sogar ein bisschen stolz auf sie, weil sie mich stärker gemacht haben, aber seit ich Daniel kenne, wäre ich froh, ich hätte eine weniger bewegte Vergangenheit, um ihm ohne Scham begegnen zu können. Diese junge Frau, die auf einem Parkplatz einen Fettsack mit Krampfadern angesprochen hat, war ich; diese Frau, die bereit war, sich für einen Schluck Hochprozentigen zu verkaufen, war ich, aber heute bin ich eine andere. Hier in Chiloé habe ich eine zweite Chance, ich habe noch tausend Chancen, aber manchmal kann ich die Stimme in mir, die mir Vorwürfe macht, nicht zum Schweigen bringen.
Der Alte in den Shorts war der erste von mehreren Männern, mit denen ich mich zwei Wochen über Wasser hielt, bis ich das nicht länger ertrug. Mich in dieser Weise zu verkaufen war schlimmer als Hunger und schlimmer als das Grauen des Entzugs. Wie betrunken oder zugedröhnt ich auch sein mochte, ich wurde das Gefühl tiefer Erniedrigung nicht los, immer sah mein Großvater mich an, litt wegen mir. Die Männer nutzten meine Zurückhaltung und Unerfahrenheit aus. Im Vergleich zu anderen Frauen, die dasselbe taten, war ich jung und sah gut aus, ich hätte mich besser vermarkten könnten, gab mich aber her für ein paar Schlucke, eine Prise weißen Pulvers, eine Handvoll gelber Steine. Die anständigeren bezahlten mir ein paar Drinks in einer Bar oder boten mir Koks an, ehe sie mich in ein Hotelzimmer mitnahmen; andere kauften bloß eine Flasche Fusel und machten es im Auto mit mir. Einige gaben mir zehn oder zwanzig Dollar, andere warfen mich ohne einen Cent auf die Straße, mir war nicht klar, dass man vorher kassieren sollte, und als ich es gelernt hatte, war ich nicht mehr bereit, auf dem Weg weiterzugehen.
Durch einen Freier kam ich schließlich zu meinem ersten Schuss, und als das Heroin in meine Vene drang, verfluchte ich Brandon Leeman, dass er mich an seinem Paradies nichthatte teilhaben lassen. Unbeschreiblich der Moment, wenn der göttliche Stoff ins Blut gelangt. Ich versuchte damals, das wenige, was ich besaß, zu verkaufen, fand aber keinen, der es haben wollte, und bekam von einer Vietnamesin, die ich an der Tür ihres Friseurgeschäfts lange bekniete, nur sechzig Dollar für meine Handtasche. Sie war das Zwanzigfache wert, aber ich hätte sie ihr auch für die Hälfte gegeben, so dringend brauchte ich was.
Ich hatte Adam Leemans Telefonnummer nicht vergessen und auch nicht, dass ich Brandon versprochen hatte, seinen Bruder anzurufen, sollte ihm etwas zustoßen, aber ich tat es nicht, weil ich selbst nach Beatty fahren und mir das Vermögen in diesen Taschen holen wollte. Nur hätte es dafür einer Strategie bedurft und der Fähigkeit, klar zu denken, die mir vollkommen abging.
Angeblich sortiert einen die Gesellschaft nach ein paar Monaten auf der Straße endgültig aus, weil man dann schon aussieht wie ein Bettler, das eigene Ich verliert, das Umfeld wegbricht. Bei mir ging es schneller, innerhalb von drei Wochen war ich unten. Ich versank erschreckend rasant in diesem elenden, gewalttätigen, dreckigen Dasein, das parallel zur Normalität jeder Stadt existiert, lebte zwischen Verbrechern und ihren Opfern, Verrückten und Süchtigen in einer Welt ohne Solidarität oder Mitgefühl, wo nur durchkommt, wer die anderen wegstößt. Ich war ständig zugedröhnt oder auf der Suche nach etwas, womit ich es sein konnte, ich stank, war schmutzig und ausgezehrt, verlor immer mehr den Verstand und wurde krank und kränker. Ich behielt nichts bei mir, zwei Bissen, und ich musste mich übergeben, ich hustete, mir lief die Nase, ich konnte die eitrigen Augenlider kaum offenhalten, klappte immer wieder zusammen. Etliche Einstichstellen entzündeten sich, ich hatte offene
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