Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
hatte. Ich dagegen fand in den Blicken meines Vaters und meiner Nininur Zärtlichkeit, und es fiel nicht ein Wort des Vorwurfs oder des Zweifels. »Du bist nicht wie die, Maya, du hast in den Abgrund geblickt, aber du bist nicht wirklich gestürzt«, sagte meine Nini einmal zu mir. Genau davor hatten Olympia und Mike mich gewarnt, vor der Versuchung, sich selbst für etwas Besseres zu halten.
Reihum setzte sich jede Familie in die Mitte des Kreises und erzählte den anderen von ihren Erfahrungen. Die Suchtberater leiteten diese Beichtrunden mit großem Geschick und schufen eine geschützte Atmosphäre, in der wir alle gleich waren und keiner außergewöhnliche Fehler begangen hatte. Das ließ niemanden kalt, irgendwann wurden alle von Gefühlen überwältigt, manchmal brach jemand schluchzend zusammen, und nicht immer war das der Süchtige. Kindesmissbrauch, prügelnde Partner, hassenswerte Mütter, Inzest, eine Ahnengalerie von Alkoholikern in der Familie, es war alles dabei.
Als meine Familie an der Reihe war, begleitete uns Mike O’Kelly mit seinem Rollstuhl in den Kreis und bat darum, einen zusätzlichen Stuhl aufzustellen, der leer blieb. Ich hatte meiner Nini viel von dem erzählt, was seit meiner Flucht aus dem Internat geschehen war, ihr jedoch alles verschwiegen, was sie tödlich getroffen hätte; dagegen konnte ich Mike alles erzählen, wenn er mich allein besuchte. Ihn wirft so schnell nichts um.
Mein Vater sprach von seiner Arbeit als Pilot, davon, dass er mir fern gewesen war, von seiner Leichtlebigkeit und dass er mich aus Egoismus zu meinen Großeltern abgeschoben habe, ihm die Tragweite seiner Vaterrolle erst bewusst geworden sei, als ich mit sechzehn meinen Fahrradunfall hatte; da erst habe er begonnen, mir Aufmerksamkeit zu schenken. Er sei mir nicht böse und habe auch das Vertrauen in mich nicht verloren, sagte er, und werde alles tun, was in seiner Macht stehe, um mir zu helfen. Meine Nini erzählte von dem Kind, das ich gewesen war, gesundund fröhlich, von meinen Einfällen, den endlos langen Gedichten und den Fußballspielen und sagte wieder, wie sehr sie mich liebte.
In diesem Augenblick betrat mein Pop den Raum, sah genauso aus wie vor seiner Krankheit, war groß, roch nach feinem Tabak, trug seine Goldrandbrille und seinen Borsalino, setzte sich auf den Stuhl, der für ihn bereitstand, und bat mich mit offenen Armen zu sich. Nie zuvor war er mir mit solchem Selbstbewusstsein erschienen. Ungewöhnlich für ein Gespenst. Ich hielt seine Knie umklammert, weinte und weinte, bat um Verzeihung und sah endgültig ein, dass niemand mich vor mir selbst schützen kann und ich allein verantwortlich bin für mein Leben. »Gib mir deine Hand, Pop«, bat ich ihn, und seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen. Was die anderen sahen? Sie sahen mich einen leeren Stuhl umarmen, aber Mike hatte meinen Pop erwartet und deshalb um den Platz für ihn gebeten, und für meine Nini war es nur natürlich, dass er bei uns war, auch wenn man ihn nicht sah.
Ich erinnere mich nicht mehr an das Ende der Sitzung und weiß nur noch, dass ich bleiern müde war, meine Nini mich aufs Zimmer begleitete, ich gemeinsam mit Loretta zu Bett ging und zum ersten Mal in meinem Leben vierzehn Stunden am Stück schlief. Ich schlief meine ungezählten durchwachten Nächte aus, die ganze Würdelosigkeit der letzten Monate und die hartnäckige Angst. Es war eine heilsame Nacht, wie ich sie kein zweites Mal erlebte, die Schlaflosigkeit wartete schon geduldig auf ihren nächsten Auftritt. Von da an begab ich mich mit Haut und Haaren in das Programm und wagte mich nach und nach in die dunklen Höhlen meiner Vergangenheit vor. Blind ging ich hinein in eine dieser Höhlen, um dort mit den Drachen zu kämpfen, und wenn ich meinte, ich hätte sie besiegt, tat sich die nächste Höhle auf und die nächste, ein düsteres Labyrinth, das kein Ende nahm. Ich musste meine Seele erforschen,die nicht, wie ich in Las Vegas geglaubt hatte, abwesend war, sondern wie taub, kauernd, verschreckt. Ich fühlte mich nie sicher in diesen dunklen Höhlen, verlor jedoch die Angst vor dem Alleinsein, und deshalb konnte ich mich wohl so gut auf mein neues, einsames Leben in Chiloé einlassen. Was für einen Unsinn schreibe ich da? Ich bin nicht einsam in Chiloé. Tatsächlich hatte ich nie so viel Gesellschaft wie hier auf der Insel, in unserem kleinen Haus, bei dem neurotischen Edelmann Manuel Arias.
Während ich das Entzugsprogramm absolvierte, besorgte mir
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