Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Sechsunddreißigjährigen, verheiratet, Mutter von drei Kindern, Immobilienmaklerin, Alkoholikerin. »Das hier ist meine letzte Chance. Mein Mann hat mir angekündigt, wenn ich mit dem Trinken nicht aufhöre, dann lässt er sich scheiden und nimmt mir die Kinder weg«, sagte sie. An den Besuchstagen kam ihr Mann mit den Kindern, sie brachten selbstgemalte Bilder, Blumen und Pralinen mit, sie wirkten wie eine glückliche Familie. Loretta zeigte mir wieder und wieder ihre Fotoalben: »Als mein ältester Sohn, Patrick, zur Welt kam, nur Bier und Wein. Urlaub auf Hawaii, Daiquiris und Martinis. Weihnachten 2002, Champagner und Gin. Hochzeitstag 2005, Magenspülung und Entzug. Picknickzum 4. Juli, erster Whisky nach elf Monaten trocken. Geburtstag 2006, Bier, Tequila, Rum, Amaretto.« Sie wusste, das Vier-Wochen-Programm in der Klinik würde nicht genügen, sie würde zwei oder drei Monate bleiben müssen, ehe sie zu ihrer Familie zurückkehrte.
Neben den Gruppensitzungen, die uns Mut machen sollten, wurde uns viel Wissen vermittelt über Sucht und ihre Folgen, und es gab Einzelgespräche mit den Suchtberatern. Für die tausend Dollar am Tag durften wir Schwimmbad und Fitnessraum nutzen, an Ausflügen in die nahen Nationalparks teilnehmen, es gab Massagen und verschiedene Wellness- und Schönheitsbehandlungen, außerdem Kurse für Yoga, Pilates, Meditation, Gartengestaltung und Kunst, aber ungeachtet der zig Angebote schleppte jeder an seinen Problemen wie an einem toten Pferd, das sich unmöglich ignorieren ließ. Für mich war am schlimmsten, dass ich unbedingt abhauen wollte, weg von diesem Ort, weg aus Kalifornien, aus der Welt, von mir. Das Leben kostete zu viel Kraft, es lohnte nicht, morgens aufzustehen und zu sehen, wie die Stunden sich ohne ein Ziel hinschleppten. Schlafen. Sterben. Sein oder Nichtsein. »Nicht nachdenken, Maya, versuch dich zu beschäftigen«, riet mir Mike O’Kelly. »Diese negative Phase ist normal und geht bald vorbei.«
Um mich zu beschäftigen, färbte ich mir zu Lorettas Entsetzen öfter die Haare. Von dem Schwarz, das Freddy im September benutzt hatte, waren nur bleigraue Reste an den Spitzen übrig. Ich vertrieb mir die Zeit damit, einzelnen Strähnen Farben zu geben, wie man sie von Staatsflaggen kennt. Meine Therapeutin stufte das als Autoaggression ein, eine Form der Selbstbestrafung; dasselbe dachte ich über ihren Altweiberdutt.
Zweimal in der Woche gab es Frauentreffen mit einer Psychologin, die mich wegen ihrer Körperfülle und ihrer Güte an Olympia Pettiford erinnerte. Wir setzten uns im Saal, der nur von ein paar Kerzen erleuchtet war, auf denBoden, und jede gab etwas, womit ein Altar zusammengestellt wurde: ein Kreuz, einen Buddha, Fotos der Kinder, einen Teddybär, das Kästchen mit etwas Asche von einem geliebten Menschen, einen Ehering. Im Halbdunkel und im Kreis nur mit Frauen fiel uns das Reden leichter. Die Frauen erzählten, wie die Sucht ihr Leben zerstörte, sie steckten bis zum Hals in Schulden, ihre Freunde, ihre Familie oder ihre Partner hatten sich von ihnen abgewandt, sie wurden von Schuldgefühlen gemartert, weil sie betrunken jemanden angefahren oder ihr krankes Kind alleingelassen hatten, um Drogen aufzutreiben. Manche erzählten auch davon, wie tief sie sich erniedrigt hatten, von den Entbehrungen, den Diebstählen, der Prostitution, und ich hörte ihnen mit der Seele zu, weil ich dasselbe durchgemacht hatte. Viele waren rückfällig geworden und ohne jedes Zutrauen zu sich selbst, weil sie wussten, wie flüchtig und vergänglich die Nüchternheit sein kann. Der Glaube half, man konnte sich in die Hände von Gott oder einer höheren Macht begeben, aber nicht alle waren dazu in der Lage. Dieser Kreis der suchtkranken Frauen und ihre Traurigkeit war das genaue Gegenteil der Runde der schönen Hexen von Chiloé. In der Ruca schämt sich niemand, alles ist Fülle und Leben.
An den Samstagen und Sonntagen fanden Sitzungen mit den Angehörigen statt, sehr schmerzhaft, aber notwendig. Mein Vater stellte präzise Fragen: Was ist Crack und wie wird es genommen? Was kostet Heroin? Wie wirken halluzinogene Pilze? Wie hoch ist die Erfolgsquote bei den Anonymen Alkoholikern? Und die Antworten waren wenig ermutigend. Andere Angehörige machten ihrer Enttäuschung und ihrem Misstrauen Luft, hatten den Süchtigen über Jahre ertragen und konnten nicht begreifen, wie jemand derart entschlossen sich selbst und alles zerstörte, was man einmal an Gutem miteinander geteilt
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