Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
meine Nini einen neuen Pass, setzte sich mit Manuel in Verbindung und bereitete meine Reise nach Chile vor. Hätte sie das Geld dafür gehabt, sie hätte mich persönlich bei ihrem Freund in Chiloé abgeliefert. Zwei Tage vor dem Ende meiner Behandlung packte ich meine Sachen in den Rucksack und verließ bei Einbruch der Dunkelheit die Klinik, ohne mich von jemandem zu verabschieden. Meine Nini wartete wie abgesprochen zwei Straßen weiter in ihrem altersschwachen VW. »Jetzt löst du dich in Luft auf, Maya«, sagte sie und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Sie drückte mir das gleiche eingeschweißte Foto von meinem Pop in die Hand, das ich in Las Vegas verloren hatte, und brachte mich zum Flughafen von San Francisco.
Ich töte Manuel mit meiner Fragerei den letzten Nerv: Glaubst du, Männer verlieben sich genauso rettungslos wie Frauen? Meinst du, Daniel würde der Welt Lebewohl sagen und sich zu mir nach Chiloé absetzen? Findest du mich dick, Manuel? Sicher? Sag die Wahrheit! Manuel sagt, man könne hier im Haus nicht mehr atmen, die Luft sei geschwängert von Tränen und weiblichen Seufzern, brennender Leidenschaft und albernen Zukunftsplänen. Sogar die Tiere benehmen sich komisch, der Literatenkater, der immer sehr reinlich gewesen ist, kotzt neuerdings auf die Tastatur, und der Dusselkater, der immer verdrießlich gewesen ist, wetteifert mit Fákin um meine Zuneigung, liegt morgens in meinem Bett und streckt alle Viere in die Luft, damit ich ihm den Bauch kraule.
Wir haben öfter über die Liebe gesprochen, zu oft, sagt Manuel. »Die Liebe ist das Tiefste überhaupt«, ist eine von den Binsenweisheiten, die ich zu ihm sage, worauf er mir mit seinem Gelehrtengedächtnis aus dem Stand ein Gedicht von D.H. Lawrence aufsagt, in dem es heißt, etwas sei tiefer als Liebe, die Einsamkeit des einzelnen, und am Grund dieser Einsamkeit brenne das schwere Feuer des nackten Lebens, was ich aber nicht hören will, schließlich habe ich gerade erst das schwere Feuer des nackten Daniels entdeckt. Abgesehen davon, dass er tote Dichter zitiert, hält Manuel den Mund. Unsere Gespräche sind eher Monologe, in denen ich ihm mein Herz ausschütte; ich rede über Daniel und erwähne Blanca mit keinem Wort, weil sie sich das verbeten hat, dennoch geht es unterschwellig auch um sie. Manuel hält sich für zu alt zum Verlieben und meint, er habe einer Frau nichts zu bieten, aber ich glaube, da ist etwas faul und im Grunde hat er Schiss, fürchtet sich davor, zu teilen, abhängig zu sein, zu leiden, hat Angst, dass bei Blanca der Krebs wiederkommt und sie vor ihm stirbt oder er sie umgekehrt zur Witwe macht oder schon tatterig wird, wenn sie noch vital ist, wovon man wohl ausgehen muss, denn er ist viel älter als sie. Wäre da nicht dieses makabre Bläschen in seinem Gehirn, Manuel würde bestimmt gesund und munter neunzig werden können. Wie die Liebe wohl ist im Alter? Ich meine körperlich. Ob man’s dann noch miteinander macht? Als ich zwölf war und anfing, meinen Großeltern nachzuspionieren, schlossen die manchmal ihr Schlafzimmer ab. Ich fragte meine Nini, was sie da hinter der verschlossenen Tür taten, und sie sagte, sie würden den Rosenkranz beten.
Manchmal gebe ich Manuel Ratschläge, ich kann es mir nicht verkneifen, und er nimmt sie immer spöttisch auseinander, aber ich weiß, dass er mir eigentlich zuhört und etwas davon umsetzt. Er legt seine mönchischen Gewohnheiten nach und nach ab, ist nicht mehr so zwanghaft ordentlich und mir gegenüber aufmerksamer, versteinert nicht mehr, wenn ich ihn berühre, und sucht nicht mehr das Weite, wenn ich mit meinen Kopfhörern auf den Ohren herumhüpfe und tanze; ich muss was tun, sonst sehe ich bald aus wie eine von diesen schweinsfarbenen Barockfrauen, die ich in München in der Pinakothek gesehen habe. Manuels Bläschen im Gehirn ist kein Geheimnis mehr, er kann seine Migräne-Anfälle nicht vor mir verbergen und auch nicht die Phasen, wenn er alles doppelt sieht, ihm die Buchstaben vor den Augen verschwimmen. Als Daniel von dem Aneurysma hörte, empfahl er mir die Mayo Clinic in Minneapolis, die habe die beste Neurochirurgie in den USA, und Blanca versichert, dass ihr Vater die Operation bezahlen würde, aber Manuel wollte nichts davon wissen; er stehe schon zu tief in Don Lionels Schuld. »Eben deshalb doch«, widersprach ihm Blanca. »Wegen einer Sache in jemandes Schuld stehen oder wegen zwei bleibt sich gleich.« Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich diesen Haufen
Weitere Kostenlose Bücher