Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
von Soldaten, die traumatisiert aus dem Krieg heimkommen. Noch ist es in der Testphase, man feilt daran, damit das Gedächtnis nicht insgesamt Schaden nimmt. Wenn ich die Wahl hätte, was würde ich vergessen wollen? Nichts. Die schlimmen Erlebnisse der Vergangenheit sind Lehren für die Zukunft, und an das Schlimmste von allem, den Tod meines Großvaters, will ich mich immer erinnern.
Oben auf dem Hügel, nah bei der Grotte der Pincoya, habe ich meinen Pop gesehen. Er stand am Rand der Klippe und schaute in die Ferne, trug seinen italienischen Hut und seine Reisekleider und hielt seinen Koffer in der Hand, als wäre er von weit her gekommen und unschlüssig, ob er gehen oder bleiben soll. Viel zu kurz sah ich ihn so, rührte mich nicht, hielt den Atem an, um ihn nicht zu verscheuchen, und rief ohne Stimme nach ihm; dann flog kreischend ein Schwarm Möwen vorbei, und er war fort. Ich habe niemandem davon erzählt, weil ich mir keine an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen anhören will, obwohl man mir hier ja vielleicht glauben würde. Wenn in Cucao unerlöste Seelen heulen, im Golf von Ancud ein Schiff mit Vogelscheuchenbesatzung kreuzt und sich in Quicaví die Hexer in Hunde verwandeln, ist es sehr gut denkbar, dass bei der Grotte der Pincoya ein toter Weltraumforscher erscheint. Vielleicht ist es kein Geist, sondern meine Vorstellungskraft macht ihn in der Atmosphäre sichtbar wie bei einer Filmvorführung. Chiloé bietet ideale Bedingungen für das Ektoplasma eines Großvaters und die Vorstellungskraft einer Enkelin.
Mit Daniel habe ich viel über meinen Pop geredet, als wir allein waren und einander unser Leben erzählten. Er weiß alles über meine glücklichen Kindertage in dem Zuckerbäckerhaus in Berkeley. Die Erinnerung an diese Jahre und daran, wie meine Großeltern mich behütet haben, hat mich die schlimmen Zeiten überstehen lassen. Mein Vater spielte dagegen kaum eine Rolle, war als Pilot mehr in der Luftals auf der Erde. Vor seiner Heirat wohnte er mit uns in einem Haus, in zwei Zimmern im Obergeschoss, die über eine schmale Außentreppe einen eigenen Eingang besaßen, aber wir sahen ihn wenig, denn wenn er nicht flog, konnte er in den Armen einer dieser Frauen liegen, die zu den unmöglichsten Zeiten anriefen und von ihm nie erwähnt wurden. Sein Dienstplan wechselte alle zwei Wochen, und wir gewöhnten uns daran, nicht auf ihn zu warten und ihm keine Fragen zu stellen. Um mich kümmerten sich meine Großeltern, sie gingen zu den Elternabenden in der Schule, fuhren mit mir zum Zahnarzt, halfen mir bei den Hausaufgaben, brachten mir bei, wie man Schuhe bindet, Fahrrad fährt, einen Computer bedient, sie trockneten meine Tränen, lachten mit mir; ich kann mich an keinen einzigen Moment in meinen ersten fünfzehn Lebensjahren erinnern, in dem meine Nini und mein Pop nicht da gewesen wären, und jetzt spüre ich meinen Pop, obwohl er tot ist, so nah bei mir wie nie zuvor. Er hat sein Versprechen gehalten, immer bei mir zu sein.
Daniel ist jetzt seit zwei Monaten fort, zwei volle Monate, ohne ihn zu sehen, zwei Monate mit einem Knoten im Herzen, zwei Monate, in denen ich in dieses Heft schreibe, worüber ich eigentlich mit ihm reden sollte. Wie sehr er mir fehlt! Es ist ein Siechtum, eine tödliche Krankheit. Als Manuel im Mai aus Santiago zurückkam, tat er, als merkte er nicht, dass das ganze Haus nach Küssen roch und Fákin unruhig war, weil ich mich nicht um ihn kümmerte und er allein spazieren gehen musste wie jeder normale Hund in diesem Land; noch vor kurzem war er ein Straßenköter, und jetzt macht er auf Schoßhund. Manuel stellte seinen Koffer ab, sagte, er müsse ein paar Dinge mit Blanca besprechen, und weil es nach Regen aussehe, werde er über Nacht bei ihr bleiben. Hier weiß man, dass es regnen wird, wenn die Delfine tanzen und es »Lichtbalken« gibt, wiedas hier heißt, wenn die Sonnenstrahlen durch die Wolken schneiden. Soviel ich weiß, hat Manuel nie zuvor bei Blanca übernachtet. Danke, danke, danke, hauchte ich ihm ins Ohr und drückte ihn lange an mich, was er nicht ausstehen kann. Er schenkte mir eine weitere Nacht mit Daniel, der gerade Holz im Ofen nachlegte, weil er Huhn mit Senf und Speck zubereiten wollte, ein Rezept, das seine Schwester Frances sich ausgedacht hatte, die nie in ihrem Leben selbst gekocht hat, aber Kochbücher sammelt und ein Chef de théorie ist. Ich hatte mir vorgenommen, nicht auf die Schiffsuhr an der Wand zu sehen, die eilig die Zeit fraß, die
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