Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
1974 im Nationalstadion und anderen Gefangenenlagern interniert und wurde dort unzählige Male verhört. Die Geständnisse waren ohne Belang und landeten irgendwo zwischen blutverschmierten Aktendeckeln, für die sich außer den Ratten niemand interessierte. Genau wie viele andere Gefangene wusste auch Manuel nie, was seine Peiniger hören wollten, und begriff schließlich, dass es keine Rolle spielte, weil auch sie keine Ahnung hatten, wonach sie suchten. Das waren keine Verhöre, sondern Strafaktionen, um eine Herrschaft des Schreckens zu errichten und jeden Widerstand der Bevölkerung im Keim zu ersticken. Angeblich suchte man nach Depots von Waffen, die von der Regierung Allende an die Bevölkerung verteilt worden sein sollten, aber auch Monate nach dem Putsch hatte man nichts gefunden, und niemand glaubte mehr an diese vermeintlichen Waffenlager. Der Terror lähmte die Menschen, er war das wirksamste Mittel, um eine eiskalte Kasernenordnung durchzusetzen. Das war ein langfristiges Vorhaben, mit dem das Land von Grund auf verändert werden sollte.
Im Winter 1974 war Manuel in einem Anwesen außerhalb Santiagos inhaftiert, das einst der einflussreichen, aus Italien stammenden Familie Grimaldi gehört hatte. Die Tochter der Familie war festgenommen worden und hatte sich ihre Freiheit mit dem Familienanwesen erkauft. Der Gebäudekomplex ging in den Besitz der berüchtigten DINA über, des nationalen Geheimdienstes, der eine eiserne Faust im Wappen trug und für viele Verbrechen verantwortlich ist, darunter auch einige im Ausland verübte, so die Ermordung des früheren Oberbefehlshabers der Streitkräfte in Buenos Aires und eines Ex-Ministers mitten in Washington, wenige Straßen vom Weißen Haus entfernt. Aus der Villa Grimaldi machte man das gefürchtetste Verhörzentrum des Landes, viertausendfünfhundert Gefangene wurden hinter ihre Mauern verschleppt, und viele von ihnen kamen nicht mehr lebend heraus.
Am Ende meiner Woche in Santiago zwang ich mich zum Besuch der Villa Grimaldi, heute ein stiller Park, wo die Erinnerung an diejenigen umgeht, die dort gelitten haben. Als es so weit war, konnte ich nicht allein hin. Meine Großmutter glaubt, dass Orte von dem gezeichnet sind, was die Menschen dort erlebt haben, und ich fand nicht den Mut, mich ohne die Hand eines Freundes der Schlechtigkeit und dem Schmerz auszusetzen, die für immer mit diesem Ort verbunden sind. Weil außer Liliana und Pater Lyon nur Blanca von meinen Nachforschungen über Manuels Vergangenheit wusste, bat ich sie darum, mich zu begleiten. Sie machte einen zaghaften Versuch, mich davon abzubringen, »wozu weiter in etwas stochern, das so lange zurückliegt«, ahnte aber wohl, dass dort der Schlüssel zu Manuels Leben verborgen ist, und ihre Liebe zu ihm war stärker als ihr Unwillen, sich etwas auszusetzen, vor dem sie lieber die Augen verschlossen hätte. »Also schön, Gringuita, dann lass uns sofort gehen, ehe es mir leidtut«, sagte sie.
Die Villa Grimaldi heißt heute Friedenspark, ein Hektar Grün mit schläfrigen Bäumen. Von den Gebäuden, die dort zu Manuels Zeit standen, ist kaum etwas geblieben, weil während der Diktatur alles abgerissen wurde im Bemühen, die Spuren des Unverzeihlichen zu beseitigen. Allerdings gelang es den Bulldozern nicht, die hartnäckigen Geister zu vertreiben oder die Todesschreie zum Verstummen zu bringen, die man noch heute dort wahrnehmen kann. Wir gingen vorbei an Bildern, Denkmälern, großen Leinwänden mit den Gesichtern von Toten und Verschwundenen. Ein Museumsführer erläuterte uns, was man mit den Gefangenen getan hatte, erklärte die gebräuchlichsten Foltermethoden anhand schematischer Zeichnungen menschlicher Figuren, man hängte sie an den Armen auf, drückte ihre Köpfe in Wassertonnen, band sie auf Eisenpritschen, die unter Strom gesetzt wurden, ließ Frauen von Hunden vergewaltigen, schob Männern Besenstiele in den Anus. Auf einer Steinwand fand ich zwischen zweihundertsechsundsechzig Namen auch den von Felipe Vidal und konnte so das letzte Teil des Puzzles legen. In der Hölle der Villa Grimaldi waren Manuel Arias, Universitätsdozent, und Felipe Vidal, Journalist, einander begegnet, dort hatten sie zusammen gelitten, und einer hatte überlebt.
Blanca und ich kamen zu der Überzeugung, dass wir mit Manuel über seine Vergangenheit reden mussten, und bedauerten, dabei nicht auf Daniels Hilfe zurückgreifen zu können, denn bei einem solchen Gespräch wäre professionelle Begleitung
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