Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
diese Gringa, die in seinem Haus lebt, ihn herumkommandieren, deshalb kommt ihm unsere neue Nettigkeit verdächtig vor, er glaubt, wir verheimlichten ihm etwas und sein Zustand sei weitaus kritischer, als ihm Dr. Puga gesagt hat. »Wenn ihr mich behandelt wie einen Invaliden, dann kann ich auf eure Gesellschaft verzichten«, knurrt er.
Mit Hilfe eines Stadtplans und einer Liste von Orten und Namen, die Pater Lyon mir hatte zukommen lassen, konnte ich Manuels Leben in den entscheidenden Jahren zwischen dem Militärputsch und seinem Gang ins Exil nachvollziehen. 1973 war er sechsunddreißig Jahre alt, einer der jüngsten Dozenten an der Fakultät für Sozialwissenschaften, war verheiratet, aber offenbar stand es mit seiner Ehe nicht zum Besten. Er war kein Kommunist, wie der Millalobo glaubt, und auch sonst nicht Mitglied einer Partei, sympathisierte jedoch mit den Anliegen von Salvador Allende und nahm an den Massenkundgebungen teil, die damals sowohl für als auch gegen die Regierung stattfanden. Als es zum Putsch kam, am Dienstag, dem 11. September 1973, war das Land in zwei unversöhnliche Lager gespalten, niemand konnte neutral bleiben. Zwei Tage nach dem Putsch wurde die zunächst für achtundvierzig Stunden verhängte Ausgangssperre aufgehoben, und Manuel ging wieder zur Arbeit. Er fand die Universität besetzt von Soldaten in voller Kriegsbewaffnung und Kampfmontur, die Gesichter rußgeschwärzt, sah Einschusslöcher in den Mauern und Blut auf den Treppen und wurde von jemandem gewarnt, dass sämtliche Studenten und Lehrer, die sich zur Zeit des Putsches im Gebäude aufhielten, festgenommen worden waren.
Chile war immer stolz auf seine Demokratie und seine Institutionen gewesen und dieser Gewaltausbruch so jenseits alles Vorstellbaren, dass Manuel die Tragweite des Geschehenen vollkommen falsch einschätzte und auf die nächste Polizeiwache ging, um sich nach seinen Kollegen zu erkundigen. Er kam dort nicht mehr heraus. Mit verbundenen Augen brachte man ihn ins Nationalstadion, das zum Gefangenenlager umfunktioniert worden war. Darin befanden sich bereits Tausende Menschen, die in den vergangenen zwei Tagen festgenommen worden waren, wurden misshandelt, waren hungrig, schliefen auf dem nacktenBetonboden, hockten den Tag über auf den Tribünen und beteten still, man möge sie nicht wie andere Unglückliche zum Verhör in die Krankenstation bringen. Man hörte die Schreie der Opfer und nachts die Schüsse der Hinrichtungen. Die Gefangenen hatten keinen Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Familien, die allerdings Pakete mit Essen und Kleidung abgeben konnten in der Hoffnung, dass die Wachen sie auch ablieferten. Manuels Frau gehörte zur Bewegung der revolutionären Linken, der vom Militär am stärksten verfolgten Gruppierung, hatte sich sofort nach Argentinien abgesetzt und floh von dort weiter nach Europa; sie sollte ihren Mann erst drei Jahre später wiedersehen, als beide Zuflucht in Australien fanden.
Gebeugt von Schuld und Gram und aus nächster Nähe von zwei Soldaten bewacht, schritt ein Mann mit Kapuze die Stadiontribüne ab. Er deutete auf angebliche sozialistische oder kommunistische Aktivisten, die unverzüglich hinab in die Katakomben des Stadions gebracht und dort gefoltert oder ermordet wurden. Ob irrtümlich, ob aus Angst, jedenfalls zeigte der unselige Kapuzenmann auf Manuel Arias.
Tag für Tag, Station für Station, vollzog ich Manuels Leidensweg nach und tastete mich so vor zu den unauslöschlichen Narben, die die Diktatur in Chile und in Manuels Seele hinterlassen hat. Jetzt weiß ich, was sich hinter der Fassade dieses Landes verbirgt. In einem Park am Ufer des Río Mapocho, wo fünfunddreißig Jahre zuvor viele Leichen von Gefolterten in der Strömung trieben, las ich, was die mit der Untersuchung der Gräueltaten betraute Kommission zutage gefördert hatte, eine ausführliche Schilderung von Leid und Grausamkeit. Über einen mit Pater Lyon befreundeten Priester konnte ich die Unterlagen der Vicaría de Solidaridad einsehen, einer Einrichtung der katholischen Kirche, die den Opfern der Unterdrückung beigestanden, Buch über die Verschwundenen geführt und der Diktaturaus dem Herzen der Kathedrale heraus die Stirn geboten hatte. Ich sah Hunderte Fotos von Menschen an, die man verhaftet hatte und die dann spurlos verschwanden, junge Leute zumeist, und ich las die Anklagen von Frauen, die noch heute ihre Kinder suchen, ihre Männer, manchmal ihre Enkel.
Manuel war im Sommer und Herbst
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