Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Gerüchte, denen von der herrschenden Propaganda nicht widersprochen wurde, weil der daran lag, Angst und Schrecken zu schüren. Man sprach von Konzentrationslagern und Folterzentren, von Tausenden und Abertausenden Gefangenen, von Toten und ins Exil Vertriebenen, davon, dass Panzer ganze Arbeitersiedlungen niederrissen, Soldaten erschossen wurden, weil sie sich geweigert hatten, einen Befehl auszuführen, Gefangene, an Bahnschienen gebunden oder aufgeschlitzt wie Schlachtvieh, aus Hubschraubern ins Meer geworfen wurden, wo sie ertranken. Felipe Vidal machte Notizen über die Soldaten mit Sturmgewehren, die Panzer, die lärmenden Militärlaster, das Dröhnen der Hubschrauber, die mit Schlagstöcken zusammengetriebenen Menschen. Nidia riss die Plakate der Protestsänger von den Wänden ihrer Wohnung und die Bücher aus den Regalen, darunter harmlose Romane, fuhr alles auf eine Müllkippe, weil sie nicht wusste, wie sie es unbemerkt von den Nachbarn hätte verbrennen sollen. Es war eine sinnlose Vorsichtsmaßnahme, war die journalistische Arbeit ihres Mannes doch in Hunderten von kompromittierenden Zeitungsartikeln, Dokumentarfilmen und Tonbandaufnahmen belegt.
Es war Nidias Idee, dass Felipe sich verstecken sollte; so würden sie etwas durchatmen können, deshalb schlugsie vor, er solle in den Süden reisen zu einer Tante. Doña Ignacia war eine reichlich wunderliche Person in den Achtzigern, die seit über fünfzig Jahren Sterbende bei sich zu Hause aufnahm. Drei Dienstmädchen, unerheblich jünger als sie, halfen ihr bei dem noblen Unterfangen, den Todkranken aus begütertem Haus das Sterben leichter zu machen, wenn sich deren Angehörige ihrer nicht annehmen wollten oder konnten. Außer einer Krankenschwester und dem Diakon, die zweimal in der Woche Medikamente und das Abendmahl brachten, besuchte nie jemand ihr düsteres Anwesen, denn es hieß, dort würden die Toten umgehen. Felipe glaubte an so etwas nicht, erwähnt allerdings in einem Brief an seine Frau, die Möbel würden sich von selbst bewegen und man finde nachts keinen Schlaf, weil die Türen unerklärlich zuschlügen und man Schritte auf dem Dach vernehme. Das Esszimmer wurde oft zur Aufbahrung genutzt, und es gab einen Schrank voll mit Gebissen, Brillen und angebrochenen Pillendöschen, Hinterlassenschaften der Gäste, die sich in den Himmel aufgemacht hatten. Doña Ignacia empfing Felipe Vidal mit offenen Armen. Sie erinnerte sich nicht an ihn und hielt ihn für einen weiteren Patienten, den Gott ihr geschickt hatte; deshalb wunderte sie sich über seine gesunde Gesichtsfarbe.
Das Haus war ein Relikt aus der Kolonialzeit, besaß Lehmmauern und ein Ziegeldach, einen quadratischen Grundriss mit Innenhof. Die Zimmer lagen an einem Säulengang, wo in Blumenkästen staubige Geranien vor sich hin kümmerten und Hühner zwischen den Steinplatten scharrten. Balken und Pfeiler waren krumm, die Wände rissig, die Türen hingen schief in den Angeln vom vielen Gebrauch und den Erdbeben; an mehreren Stellen tropfte es durchs Dach, und Zugluft und die Geister der Verstorbenen verschoben häufig die Heiligenfiguren, die zur Zierde in den Zimmern standen. Es war das perfekte Vorzimmer des Todes, kühl, feucht und düster wie ein Friedhof, aberFelipe Vidal kam es vor wie der reine Luxus. Das Zimmer, das man ihm gab, war so groß wie seine Wohnung in Santiago, eingerichtet mit schweren Möbelstücken, die Fenster mit schmiedeeisernen Gittern verziert, und die Wände so hoch, dass man die düsteren Gemälde mit den Bibelszenen schräg aufgehängt hatte, um von unten etwas erkennen zu können. Das Essen war vorzüglich, denn die Tante war ein Schleckermaul und nicht geizig gegenüber ihren Sterbenden, die sehr ruhig in ihren Betten lagen, zwitschernd atmeten und kaum mehr als ein paar Bissen aßen.
Von seinem Zufluchtsort in der Provinz aus versuchte Felipe mit Hilfe seiner früheren Kontakte seine Lage zu klären. Seine Arbeit war er los, der Fernsehsender wurde staatlich kontrolliert, die Zeitung hatte man dichtgemacht und das Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er galt als linker Journalist und durfte nicht im Traum darauf hoffen, wieder in seinem Beruf zu arbeiten, besaß aber ein paar Ersparnisse, mit denen er einige Monate über die Runden kommen konnte. Vor allem musste er in Erfahrung bringen, ob er auf der Schwarzen Liste stand, und, falls dem so war, das Land verlassen. Er ließ Leuten verschlüsselte Nachrichten zukommen und führte verstohlen
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