Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Berichte über Menschenrechtsverletzungen mittlerweile um die Welt gingen. Für die Inspektion wurden die Gefangenen weggeschafft, die Blutspuren beseitigt und die Metallroste abgebaut. Manuel und ein paar andere, die in etwas besserer Verfassung waren, päppelte man einige Tage, sie durften sich waschen, bekamen frische Kleidung und wurden den Beobachtern vorgeführt, nachdem man ihnen eingeschärft hatte, dass jedes Wort zu viel ihre Familien teuer zu stehen kommen werde. Manuel genügten wenige unbeobachtete Sekunden, um einem Mitarbeiter des Roten Kreuzes zwei Sätze für Nidia Vidal ins Ohr zu flüstern.
Nidia erhielt die Nachricht, erfuhr, von wem sie stammte, und zweifelte nicht an ihrem Wahrheitsgehalt. Sie nahm Kontakt zu einem befreundeten belgischen Priester auf, der ihre Aussage zu Protokoll nahm und sie zusammen mit ihrem Sohn in die diplomatische Vertretung von Honduras brachte, wo die beiden zwei Monate auf Ausreisepapiere warteten. Im Botschaftsgebäude drängten sich über fünfzig Männer, Frauen und Kinder, schliefen auf dem Boden und hielten die drei vorhandenen Toiletten ständig besetzt, und der Botschafter mühte sich, die Leute auf verschiedene Länder zu verteilen, denn Honduras selbst war überlaufen und konnte keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen. Die Aufgabe schien endlos, immer wieder erklommen Verfolgte des Regimes die Mauer des Botschaftsgebäudes und sprangen in den Hof. Als Kanada sich bereit erklärte, zwanzig seiner Schützlinge aufzunehmen, darunter Nidia und Andrés Vidal, mietete der Botschafter einen Bus, ließ ihn mit Diplomatenkennzeichen und zwei honduranischen Fahnen versehen und brachte die Flüchtlinge zusammen mit seinem Militärattaché persönlich zum Flughafen und bis an die Gangway des Flugzeugs.
Nidia wollte ihrem Sohn in Kanada ein normales Leben bieten, ohne Angst, ohne Hass und Groll. Sie hatte nicht gelogen, als sie ihm erklärte, sein Vater sei an Herzversagen gestorben, verschwieg ihm allerdings die grauenhaftenEinzelheiten, denn das Kind war noch zu klein, um sie zu verkraften. Die Jahre gingen vorüber, ohne dass sich die Gelegenheit – oder ein guter Grund – ergeben hätte, ihm über die genaueren Umstände dieses Todes zu berichten, aber da ich die Vergangenheit nun aufgedeckt habe, wird meine Nini nicht länger schweigen können. Sie wird ihm auch sagen müssen, dass Felipe Vidal, dessen Foto seit Jahr und Tag auf Andrés’ Nachttisch steht, nicht sein Vater gewesen ist.
Wir haben ein Päckchen in die »Taverne zum lieben Toten« bekommen, und bevor wir es öffneten, wussten wir schon, wer es geschickt hatte, denn es kam aus Seattle. Darin war der Brief, auf den ich so sehnlich gewartet habe, lang und informativ, aber ohne den leidenschaftlichen Ton, der meine Zweifel über Daniels Gefühle zerstreut hätte. Außerdem enthielt es die Fotos, die er in Berkeley gemacht hat: meine Nini, die besser aussieht als im vergangenen Jahr, weil sie ihre grauen Haare jetzt färbt, am Arm meines Vaters in Pilotenunform, hübsch wie eh und je; Mike O’Kelly, der, an seinen Rollator geklammert, aufrecht steht, Oberkörper und Arme wie ein Gladiator, die Beine durch die Lähmung verkümmert; mein zauberisches Zuhause an einem strahlenden Herbsttag von den Kiefern umschattet; die Bucht von San Francisco gesprenkelt mit weißen Segeln. Von Freddy ist nur ein Schnappschuss dabei, wahrscheinlich ohne sein Wissen gemacht, auf den anderen Bildern ist er nicht zu sehen, als wäre er der Kamera absichtlich ausgewichen. Ein mageres und trauriges Wesen mit hungrigen Augen, genau wie die lebenden Toten im Gebäude von Brandon Leeman. Bis der arme Kerl seine Sucht in den Griff bekommt, können Jahre vergehen, wenn er es überhaupt schafft; unterdessen quält er sich.
In dem Paket war auch ein Buch über das organisierte Verbrechen, das ich lesen werde, und eine lange Zeitschriftenreportage über den meistgesuchten Dollarfälscher der Welt, den vierundvierzigjährigen US-Amerikaner Adam Trevor, der im August am Flughafen von Miami festgenommen wurde, als er unter falschem Namen aus Brasilien in die USA einreisen wollte. Obwohl von Interpol und dem FBI gesucht, war ihm Mitte des Jahres 2008 mit Frau und Kind die Flucht außer Landes gelungen. Eingelocht in einem Bundesgefängnis und mit der Aussicht, für den Rest seines Lebens in einer Zelle zu wohnen, hat er sich überlegt, lieber mit den Behörden zusammenzuarbeiten in der Hoffnung auf eine mildere Haftstrafe. Mit
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