Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Sonntagkleidern in dem stickigen Kabuff in der Nähe der Jugendstrafanstalt aufgetaucht, wo Schneewittchen arbeitete und sie schon erwartete. Der Bericht machte mir Hoffnung, denn wenn jemand auf der Welt Freddy helfen kann, dann ist es Mike O’Kelly.
Daniel und sein Vater haben in San Francisco an einer Konferenz über Das Rote Buch des Analytikers C.G. Jung teilgenommen, das gerade publiziert worden ist, nachdem es über Jahrzehnte von großem Geheimnis umrankt in einem Schweizer Tresor lag. Sir Robert Goodrich hat für ein Heidengeld eine luxuriöse Faksimile-Ausgabe des Originals gekauft, die Daniel einmal erben wird. Daniel nutzte den vortragsfreien Sonntag, fuhr nach Berkeley zu meiner Familie und brachte ihnen die Fotos von seinem Besuch in Chiloé.
In bester chilenischer Tradition bestand meine Großmutter darauf, er müsse über Nacht bleiben, und richtete ihm mein altes Zimmer her, das nach dem kreischenden Mango-Orange meiner Kindheit in einem etwas ruhigeren Ton gestrichen und inzwischen befreit ist von dem geflügelten Drachen an der Decke und den unterernährten Kindern an den Wänden. Der Gast staunte nicht schlecht über meine kauzige Großmutter und das große Haus in Berkeley, das sich als erheblich knarzender, windschiefer und buntscheckiger erwies, als er es sich nach meiner Schilderung vorgestellt hatte. Der Sternguckerturm war von dem früheren Mieter als Warenlager genutzt worden, aber Mike hatte ein paar von seinen bußfertigen schweren Jungs hingeschickt, die hatten den Siff beseitigt und das alte Teleskop an seinem angestammten Platz aufgestellt. Meine Nini sagt, das habe meinen Pop beruhigt, der vorher, gegen Kisten und Bündel aus Indien stoßend, durchs Haus gespukt sei. Ich verkniff es mir, ihr zu schreiben, dass mein Pop hier auf Chiloé ist, denn womöglich geht er an verschiedenen Orten gleichzeitig um.
Meine Nini zeigte Daniel die Bibliothek, die greisen Hippies auf der Telegraph Road, das beste vegetarische Restaurant, die chilenische Disko und natürlich Mike O’Kelly. »Der Ire ist in deine Großmutter verliebt, und ich glaube, er ist ihr nicht gleichgültig«, schrieb Daniel, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass meine Nini Schneewittchen für voll nehmen könnte, der verglichen mit meinem Pop ein kleiner Wicht ist. Eigentlich sieht O’Kelly nicht so schlecht aus, aber verglichen mit meinem Pop ist eben jeder ein kleiner Wicht.
In Mikes Wohnung begegnete er Freddy, der sich in den letzten Monaten sehr verändert haben muss, denn Daniels Beschreibung passt überhaupt nicht zu dem Jungen, der mirzweimal das Leben gerettet hat. Freddy nimmt an Mikes Programm teil, ist clean und augenscheinlich gesund, aber sehr niedergeschlagen, hat keine Freunde, verlässt das Haus nicht, will weder zur Schule gehen noch arbeiten. O’Kelly ist der Meinung, er brauche Zeit und wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben, er kriege schon noch die Kurve, er sei ja noch sehr jung und habe ein gutes Herz, das helfe immer. Freddy zeigte kein Interesse an den Fotos von Chiloé und den Neuigkeiten über mich; hätten ihm nicht zwei Finger an einer Hand gefehlt, ich würde denken, Daniel hat ihn verwechselt.
Mein Vater war an diesem Sonntag aus irgendeinem arabischen Emirat gekommen und aß mit Daniel zu Mittag. Ich stelle mir vor, wie die drei dort zu Hause in der in die Jahre gekommenen Küche sitzen, sehe die fadenscheinig gewordenen weißen Servietten, den alten grünen Tonkrug für Wasser, die Flasche Sauvignon Blanc von Veramonte, der Lieblingswein meines Vaters, und einen duftenden »Fischtopf« von meiner Nini, den sie selbst als die chilenische Variante des italienischen Cioppino oder der französischen Bouillabaisse bezeichnet. Daniel kam irrtümlich zu dem Schluss, mein Vater habe nah am Wasser gebaut, weil der sentimental wurde, als er die Fotos von mir sah, und stellte außerdem fest, dass ich niemandem aus meiner kleinen Familie ähnele. Er müsste Marta Otter sehen, die Prinzessin aus Lappland. Einen wunderbaren Tag lang wurde er gastfreundlich umsorgt und hält Berkeley jetzt für ein Land der Dritten Welt. Mit meiner Nini hat er sich gut verstanden, obwohl die beiden nichts gemeinsam haben außer mir und einer Schwäche für Minzeis. Nach einer gemeinsamen Risikoabwägung haben sie beschlossen, dass sie telefonisch in Kontakt bleiben wollen, was am wenigsten Gefahren birgt, so lange sie meinen Namen nicht nennen.
»Ich habe Daniel gebeten, dass er an Weihnachten herkommt«,
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