Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Telefonate, aber seine Freunde und Bekannten wollten ihm nicht antworten oder speisten ihn mit Ausflüchten ab.
Nach drei Monaten trank er eine halbe Flasche Pisco am Tag, war schwermütig und schämte sich, weil er, während andere im Untergrund gegen die Militärdiktatur kämpften, fürstlich auf Kosten einer senilen alten Dame speiste, die ihm alle Nase lang die Temperatur maß. Er starb vor Langeweile. Er vermied es, fernzusehen, wollte die Militärkapellen und ihre Marschmusik nicht hören, las nicht, weil die Bücher im Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten, und seine einzige gesellschaftliche Aktivität war der abendliche Rosenkranz, den die Dienstmädchen und die Tante für die Seelen der Sterbenden beteten und an demer sich beteiligen musste, weil das Doña Ignacias einzige Bedingung gewesen war, um ihm Obdach zu gewähren. In dieser Zeit schrieb er etliche Briefe an seine Frau, in denen er Einzelheiten aus seinem Alltag berichtete, darunter die beiden, die ich in den Archiven der Vicaría de Solidaridad lesen konnte. Vorsichtig begann er, das Haus zu verlassen, erst nur vor die Tür, dann zum Bäcker an der Ecke und zum Zeitungskiosk, danach eine Runde um den Platz und ins Kino. Überrascht stellte er fest, dass der Sommer angebrochen war und die Leute sich auf die Ferien vorbereiteten, als wäre nichts, als gehörten die Soldaten mit Helm und halbautomatischem Gewehr zum gewohnten Stadtbild. Er verbrachte Weihnachten und den Beginn des Jahres 1974 getrennt von seiner Frau und seinem Sohn, aber im Februar, als er schon fünf Monate wie eine Ratte gelebt hatte und die Geheimpolizei durch nichts hatte erkennen lassen, dass sie ihn suchte, entschied er, es sei an der Zeit, in die Hauptstadt zurückzukehren und die Bruchstücke seines Lebens zu kitten.
Felipe Vidal verabschiedete sich von Doña Ignacia und den Dienstmädchen, die ihm den Koffer mit Käse und Kuchen füllten und sehr gerührt waren, weil er seit einem halben Jahrhundert der erste Patient war, der, anstatt zu sterben, neun Kilo zugenommen hatte. Er trug Kontaktlinsen, hatte sich die langen Haare gestutzt und den Schnurrbart abrasiert. Er war nicht wiederzuerkennen. Er kehrte nach Santiago zurück und begann, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben, denn noch waren die Umstände nicht so, dass er auf Arbeitssuche hätte gehen können. Einen Monat später holte seine Frau auf dem Heimweg von der Arbeit Andrés von der Schule ab und kaufte noch rasch fürs Abendessen ein. Als sie zu Hause ankam, fand sie die Wohnungstür aufgebrochen, und die Katze lag auf der Schwelle, mit eingeschlagenem Schädel.
Wie Hunderte andere angsterfüllte Menschen machte sich auch Nidia Vidal jetzt auf und fragte an den einschlägigen Orten nach ihrem Mann, stellte sich in die Schlangen vor Polizeiwachen, Gefängnissen, Gefangenenlagern, Krankenhäusern, Leichenhallen. Ihr Mann stand nicht auf der Schwarzen Liste, er war nirgends registriert, niemals verhaftet worden, suchen Sie nicht nach ihm, gute Frau, der hat sich bestimmt mit einer Geliebten nach Mendoza abgesetzt. Ihre Wanderung wäre noch Jahre weitergegangen, hätte sie nicht eine Nachricht erhalten.
Manuel Arias befand sich zu der Zeit in der seit kurzem von der DINA genutzten Villa Grimaldi. Mit anderen Gefangenen, die sich nicht rühren konnten, stand er gedrängt in einer der Folterzellen. Unter seinen Mitgefangenen war Felipe Vidal, den wegen seiner Fernsehsendung alle kannten. Natürlich konnte Vidal nicht wissen, dass sein Zellengenosse Manuel Arias der Vater des Jungen war, den er für seinen Sohn hielt. Nach zwei Tagen wurde Felipe Vidal zum Verhör geholt und kam nicht wieder.
Die Gefangenen verständigten sich untereinander durch leises Klopfen und Scharren an den Holzwänden, die sie voneinander trennten, und so erfuhr Manuel, dass Felipe Vidal auf dem Metallrost unter Elektroschocks einen Herzstillstand erlitten hatte. Seine Leiche war, wie so viele andere, ins Meer geworfen worden. Kontakt zu Nidia aufzunehmen wurde für Manuel zu einer Obsession. Er konnte nicht viel für diese Frau tun, die er einmal so sehr geliebt hatte, aber wenigstens wollte er verhindern, dass sie ihr Leben mit der Suche nach ihrem Mann verschwendete, und ihr klarmachen, dass sie das Land verlassen musste, ehe man auch sie verschwinden ließ.
Botschaften nach draußen zu schmuggeln war ausgeschlossen, aber durch eine wundersame Fügung fand in diesen Tagen der erste Besuch des Roten Kreuzes statt, da die
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