Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Zimmer zu leben. Mein Koffer und mein Rucksack lagen geöffnet auf einem der Betten und waren offensichtlich durchsucht worden. Ich wollte Angie schon sagen,ich sei nicht bereit, mir mit anderen ein Zimmer zu teilen, aber dann fiel mir ein, dass ich verschwinden würde, sobald die Sonne aufging, und es lohnte sich nicht, wegen einer Nacht einen Aufstand zu machen.
Ich zog Schuhe und Hose aus und legte mich unter dem aufmerksamen Blick der Schulleiterin ungewaschen ins Bett. »Da, bitte, keine Einstiche und Schnitte an den Handgelenken auch nicht«, sagte ich herausfordernd und hielt ihr meine Arme hin. »Das freut mich, Maya. Schlaf gut«, antwortete Angie wie selbstverständlich, stellte die Milch und die Kekse auf den Nachttisch und ging, ohne die Tür zu schließen.
Ich schlang das leichte Abendessen hinunter, sehnte mich nach etwas Gehaltvollerem, war aber fix und fertig und im Nu in einen todesähnlichen Schlaf gesunken. Beim ersten Morgenlicht, das durch die Sprossenfenster fiel, wachte ich hungrig und verwirrt auf. Als ich die Umrisse der schlafenden Mädchen in den anderen Betten wahrnahm, fiel mir wieder ein, wo ich war. Hastig zog ich mich an, nahm meinen Rucksack und meine dicke Jacke und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Ich ging durch die Halle auf eine große Tür zu, die aussah, als führte sie vom Gelände ins Freie, fand mich dahinter jedoch in einem der überdachten Korridore zwischen den Gebäuden wieder.
Die Kälte traf mich wie eine Ohrfeige und brachte mich zum Stehen. Der Himmel hatte einen orangefarbenen Glanz, die Erde war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die Luft roch nach Kiefernnadeln und Holzfeuer. Wenige Meter vor mir stand eine Rehfamilie und sah zu mir her, erwog mit dampfenden Nüstern und zitternden Schwänzen die Gefahr. Zwei Kitze mit den Flecken der Neugeborenen hielten sich schwankend auf ihren staksigen Beinen, die Mutter sah mich wachsam und mit gespitzten Ohren an. Wir schauten einander für einen endlos langen Moment in die Augen, warteten reglos, dass die andereetwas tat, bis eine Stimme hinter mir uns beide aufschreckte und die Rehe davonsprangen. »Sie kommen zum Trinken her. Waschbären, Füchse und Bären auch manchmal.«
Es war der bärtige Psychologe vom Vortag, diesmal in Ski-Anorak und Stiefeln und einer pelzgefütterten Mütze. »Wir haben uns gestern gesehen, ich weiß nicht, ob du dich erinnerst. Ich bin Steve, einer von den Betreuern. Bis zum Frühstück sind es fast noch zwei Stunden, aber es gibt Kaffee«, und er ging los, ohne sich nach mir umzusehen. Ich folgte ihm wie ferngesteuert in den Gemeinschaftsraum und sah ihm abwartend zu, wie er die Scheite im Kamin mit Zeitungspapier neu entfachte und dann aus einer Thermoskanne zwei Becher Milchkaffee einschenkte. »Das ist der erste Schnee in diesem Jahr«, bemerkte er und fächelte mit seiner Mütze Luft ins Feuer.
Tía Blanca musste überstürzt nach Castro, weil die Berichterstattung zur Wahl der Popokönigin an den Stränden des Landes bei ihrem Vater ein beunruhigendes Herzrasen ausgelöst hat. Blanca sagt, der Millalobo sei nur deshalb noch am Leben, weil er es auf dem Friedhof sterbenslangweilig fände. Die Bilder im Fernsehen hätten für jemanden, der es am Herz hat, tödlich sein können: Mädchen in unsichtbaren Stringtangas schwenken ihr Hinterteil vor Horden von Männern, die in ihrer Begeisterung Flaschen werfen und auf die Presse losgehen. In der »Taverne zum lieben Toten« schnauften die Männer den Bildschirm an, und die Frauen hatten die Arme vor der Brust verschränkt und spuckten auf den Boden. Was würden meine Nini und ihre feministischen Freundinnen wohl zu diesem Wettbewerb sagen! Gewonnen hat ein Mädchen mit blondgefärbten Haaren und dem Po einer Schwarzen, am Strand von Pichilemu, wo auch immer das ist. »Und wegen diesem kleinen Luder geht mein Vater um ein Haar hops«, war Blancas Kommentar, als sie aus Castro zurückkam.
Ich soll mit den Kindern eine Fußballmannschaft zusammenstellen, was einfach ist, weil die Kleinen hierzulande gegen den Ball treten, sobald sie freihändig stehen können. Ich habe schon eine erste und eine zweite Jungsmannschaft und ein Mädchenteam, das eine Woge von Geraune ausgelöst hat, aber offen hat sich niemand dagegen geäußert, weil er es dann mit Tía Blanca zu tun bekäme. Mit unserer ersten Mannschaft würden wir gern an den Schulmeisterschaften teilnehmen, die zu den Nationalfeiertagen im September ausgetragen werden. Noch
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