Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
benutze sie für alles, was ich brauche, außer für E-Mails. Ich habe mich an die Kontaktsperre gewöhnt. Wem sollte ich auch schreiben ohne Freunde? Von meiner Nini und Schneewittchen bekomme ich verschlüsselte Nachrichten, die an Manuel gehen, würde den beiden aber zu gern von meiner eigentümlichen Verbannung erzählen; sie machen sich keine Vorstellung von Chiloé, diese Gegend muss man erlebt haben.
Ich wartete im Internat in Oregon darauf, dass die Kälte etwas nachließ und ich fliehen konnte, aber mit seiner kristallinen Schönheit aus Schnee und Eis und seinem Himmel, der mal blau und unschuldig war, mal bleiern und grollend, war der Winter in diese Wälder gekommen, um zu bleiben. Als die Tage endlich länger wurden, die Temperaturen stiegen und die Aktivitäten im Freien begannen,schmiedete ich erneut Fluchtpläne, aber dann wurden die Vicuñas gebracht, zwei zartgliedrige Tiere mit gespitzten Ohren und sinnlichen Wimpern, das kostspielige Geschenk eines dankbaren Vaters, dessen Sohn im Jahr zuvor hier seinen Abschluss gemacht hatte. Angie gab sie in meine Obhut, weil sie meinte, keiner sei besser dafür geeignet, man müsse behutsam mit ihnen umgehen und ich sei immerhin mit Susans Bombenspürhunden aufgewachsen. Ich musste meine Flucht aufschieben, weil die Vicuñas mich brauchten.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich an den Tagesablauf, an Sport, Kunstgruppe und Therapiesitzungen, fand aber keine Freunde, weil der Internatsbetrieb Freundschaften nach Kräften unterband; die Schüler taten sich allenfalls für Unfug zusammen. Sarah und Debbie vermisste ich nicht, als hätten die beiden durch die neue Umgebung und die veränderten Umstände jede Wichtigkeit verloren. Ich dachte neidisch daran, wie sie ihr Leben ohne mich weiterlebten und sich mit dem Rest der Berkeley High das Maul zerrissen über die bekloppte Maya Vidal, die im Irrenhaus saß. Wahrscheinlich hatte längst eine andere meinen Platz im Vampir-Trio eingenommen. Im Internat lernte ich den Psychologen-Sprech, und wie man zwischen den Regeln hindurchlavierte, die hier nicht Regeln hießen, sondern Absprachen. In der ersten von vielen Absprachen, die ich unterschrieb, ohne mich daran halten zu wollen, versprach ich wie die anderen Schüler auch, auf Alkohol, Drogen, Gewalt und Sex zu verzichten. Auf die ersten drei verzichtete man schon aus Mangel an Gelegenheit, meine Mitinsassen bekamen es aber trotz der ständigen Beobachtung durch Betreuer und Psychologen hin, Sex zu haben. Ich hielt mich raus.
Um Ärger zu vermeiden, musste man vor allem normal rüberkommen, wobei nicht immer klar war, wie man das verstehen sollte. Aß ich viel, litt ich an Angstzuständen, aßich wenig, war ich magersüchtig; blieb ich gern allein, war ich depressiv, doch weckte jede freundschaftliche Geste Argwohn; nahm ich an irgendeiner Aktivität nicht teil, sabotierte ich den Betrieb, nahm ich an zu vielen teil, wollte ich Aufmerksamkeit erregen. »Dresche fürs Tun, Dresche fürs Lassen«, lautet eine weitere Redensart meiner Nini.
Das Therapieprogramm gründete auf drei einfachen Fragen: Wer bist du? Was möchtest du aus deinem Leben machen? Wie kannst du das erreichen? Die therapeutischen Methoden waren dagegen weit weniger durchschaubar. Ein Mädchen, das vergewaltigt worden war, musste im sexy Dienstmädchenkostüm vor anderen Schülern tanzen, einen selbstmordgefährdeten Jungen schickten sie auf einen Turm der Forstwacht, um zu sehen, ob er sprang, und ein anderer, der an Klaustrophobie litt, wurde regelmäßig in einen Wandschrank gesperrt. Wir mussten in Reinigungsritualen Buße tun und in Gruppensitzungen die traumatischen Ereignisse unseres Lebens nachspielen, um sie zu überwinden. Ich weigerte mich, den Tod meines Großvaters nachzuspielen, und die anderen mussten das für mich tun, bis der Psychologe, der gerade Dienst tat, erklärte, ich sei geheilt oder nicht zu heilen, das weiß ich schon nicht mehr. In langen Gruppentherapiesitzungen beichteten – teilten – wir unsere Erinnerungen, Träume, Wünsche, Ängste, Absichten, Phantasien, die intimsten Geheimnisse. Die Seele zu entblößen war Sinn und Zweck dieser Marathonsitzungen. Handys waren verboten, das Telefon wurde kontrolliert, Briefe, Musik, Bücher und Filme zensiert, keine E-Mails, keine Überraschungsbesuche.
Nach drei Monaten im Internat bekam ich zum ersten Mal Besuch von meiner Familie. Während mein Vater meine Fortschritte mit Angie besprach, zeigte ich meiner Großmutter den
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