Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
zahlreiche, aber rege Gruppe, das Rückgrat ihrer Gemeinde. Witwe musste man nicht unbedingt sein, um Aufnahme zu finden, es genügte, wenn man einmal eine Liebe verloren hatte. »Ich zum Beispiel«, erklärte mir Olympia, »bin zur Zeit verheiratet, hatte aber vorher zwei Männer, die weggegangen sind, und ein dritter ist gestorben, ich bin also praktisch Witwe.«
Die für Freddy zuständige Sozialarbeiterin der staatlichen Kinderschutzbehörde war eine ältere Frau, schlecht bezahlt, überlastet mit den Fällen auf ihrem Schreibtisch, hatte offensichtlich genug von ihrem Job und zählte die Tage bis zur Verrentung. Sie sah sich die Kinder kurz an, holte sie vorübergehend aus der Familie, und wenig später kamen sie wieder, waren wieder geschlagen, wieder missbraucht worden. Zweimal sah sie nach Freddy und sprach mit Olympia, und dadurch erfuhr ich etwas über seine Vergangenheit.
Freddy war vierzehn und nicht zwölf, wie ich gedacht hatte, oder sechzehn, wie er behauptete. Geboren war er im Latino-Viertel von New York, seine Mutter stammte aus der Dominikanischen Republik, der Vater war unbekannt. Mit der Mutter war er nach Nevada gekommen, in der schrottreifen Karre ihres Lebensgefährten, eines Paiute-Indianers, der Alkoholiker war wie sie auch. Sie kampierten mal hier, mal da, zogen weiter, wenn sie Geld für Benzin hatten, sammelten Strafzettel und hinterließen überall Schulden. Beide verschwanden nach kurzer Zeit aus Nevada, aber jemand fand den sieben Monate alten Freddy unterernährt und von Blutergüssen übersät an einer Tankstelle. Er wuchs in Heimen auf, wurde herumgereicht, blieb nirgends lange, war verhaltensauffällig und schwierig im Umgang, besuchte aber die Schule und hatte gute Noten. Mit neun wurde er wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet, er verbrachte mehrere Monate in einer Besserungsanstalt und verschwand danach vom Radar der Kinderschutzbehörde und der Polizei.
Die Sozialarbeiterin hätte herausfinden sollen, wie und wo Freddy die letzten Jahre verbracht hatte, aber der stelltesich schlafend oder schwieg beharrlich. Er fürchtete, dass man ihn in ein Entzugsprogramm steckte. »Das würde ich nicht einen Tag überleben, Laura, du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist. Das hat mit Entzug nichts zu tun, das ist reine Bestrafung.« Brandon Leeman sah das genauso und traf Vorbereitungen, es zu verhindern.
Als man Freddy die Sonden entfernte, er feste Nahrung zu sich nehmen und aufstehen konnte, halfen wir ihm, sich anzuziehen, führten ihn ungesehen durch das Gedränge, das zur Besuchszeit im Korridor des fünften Stocks herrschte, zum Aufzug und von dort mit winzigen Schrittchen weiter zum Ausgang, wo Joe Martin mit laufendem Motor wartete. Ich könnte schwören, dass Olympia Pettiford im Korridor war, aber die gute Seele tat, als hätte sie nichts bemerkt.
Ein Arzt, der Brandon Leeman mit Medikamenten für den Schwarzmarkt belieferte, kam in die Wohnung, um nach Freddy zu sehen, und zeigte mir, wie ich den Verband an seiner Hand wechseln sollte, damit die Wunde sich nicht entzündete. Ich wollte es ausnutzen, dass der Junge in meiner Gewalt war, und ihm die Drogen entziehen, brachte es aber nicht übers Herz, ihn so elend leiden zu sehen. Zum Erstaunen des Arztes, der gemeint hatte, er würde ein paar Monate das Bett hüten müssen, erholte sich Freddy schnell, tanzte mit seinem Arm in der Schlinge bald wieder wie Michael Jackson, pinkelte allerdings weiterhin Blut.
Joe Martin und der Chinese besorgten die Vergeltung, weil sie der Meinung waren, man könne das den Schlägern dieser Gang nicht durchgehen lassen.
Die Abreibung, die Freddy im Schwarzenviertel bekommen hatte, machte mir schwer zu schaffen. In Brandon Leemans verkorkstem Universum tauchten Leute auf und verschwanden und hinterließen keine Erinnerungen, die einen gingen weg, andere landeten im Knast oder starben, aber Freddy war keine dieser namenlosen Schattengestalten, er war mein Freund. Zu sehen, wie er da im Krankenhaus lag, um Atem rang, vor Schmerzen stöhnte, manchmal das Bewusstsein verlor, trieb mir die Tränen in die Augen. Wahrscheinlich weinte ich auch um mich selbst. Ich fühlte mich in der Falle, glaubte mir selbst nicht mehr, dass ich nicht abhängig war, brauchte den Alkohol, die Pillen, das Gras, das Koks und was ich sonst konsumierte, um den Tag zu überstehen. Morgens erwachte ich mit einem fürchterlichen Kater und nahm mir fest vor, das jetzt durchzustehen und clean zu werden, aber es
Weitere Kostenlose Bücher