Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
und auf einen Befehl der Treidler setzten sie sich schnaubend in Bewegung. Der erste Ruck kam noch zögerlich, aber dann hatten die Tiere ihre Kräfte aufeinander abgestimmt und pflügten viel schneller, als ich gedacht hätte, durch die Menschenmenge, ein paar Männer bahnten ihnen vorneweg einen Weg, andere trieben sie von der Seite an, und die übrigen schoben von hinten das Haus. Großes Theater! Ein gemeinsamer Kraftakt und ein Heidenspaß! Ich lief vorne mit den Kindern mit, schrie vor Vergnügen, und Fákin wuselte zwischen den Beinen der Ochsen durch hinter mir her. Alle zwanzig, dreißig Meter kam der Zug zum Stehen, die Ochsen wurden neu ausgerichtet, die Weinflasche unter den Treidlern herumgereicht, und man posierte für die Kameras.
Es war eine Minga-Show für Touristen, was aber die menschliche Kühnheit und die Leistung der Ochsen nichtschmälerte. Als das Haus schließlich oben am Ufer mit Blick aufs Meer stand, wie es stehen sollte, segnete es der Kirchenhelfer mit Weihwasser, und das Publikum zerstreute sich langsam.
Die Auswärtigen stiegen in ihre Busse, und die Einheimischen auf ihre Pferde, um die Ochsen heimzubringen, und ich setzte mich ins Gras, ließ das Geschehen Revue passieren und ärgerte mich, dass ich mein Heft nicht dabeihatte, um alles aufzuschreiben. Da spürte ich jemandes Blick auf mir, sah hoch, und meine Augen trafen die von Daniel Goodrich, runde Augen von einer Farbe wie dunkles Holz, Fohlenaugen. Mein Magen krampfte sich erschrocken zusammen, als hätte da ein Wesen aus meiner Gedankenwelt Gestalt angenommen, jemand, den ich aus einer anderen Wirklichkeit kannte, aus einer Oper oder von einem der Renaissancegemälde, die ich mit meinen Großeltern in Europa gesehen habe. Jeder würde denken, ich habe sie nicht alle: Da steht ein Fremder vor mir, und in meinem Kopf schwirrt es wie Kolibris; jeder würde das denken, außer meiner Nini. Sie würde es verstehen, ihr ist es genauso gegangen, als sie in Kanada meinen Pop traf.
Seine Augen, das war das Erste, was ich sah, Augen mit schläfrigen Lidern, Wimpern wie von einer Frau, kräftigen Brauen. Ich brauchte bestimmt eine Minute, bis ich das Übrige würdigen konnte: groß, muskulös, langgliedrig, sinnliches Gesicht, volle Lippen, karamellfarbene Haut. Er begrüßte mich in gutem Spanisch, stellte seinen Rucksack auf den Boden, setzte sich neben mich und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu; sein Haar war kurz, schwarz, dicht gelockt. Er hielt mir eine dunkle Hand mit langen Fingern hin und sagte seinen Namen, Daniel Goodrich. Ich bot ihm den Rest aus meiner Wasserflasche an, und er trank sie in drei Schlucken aus, ohne sich um meine Keime zu scheren.
Wir redeten über das Treideln, das er aus allen möglichen Blickwinkeln gefilmt hatte, und ich klärte ihn auf, dass es ein Fake für Touristen war, was seiner Begeisterung aber nichts anhaben konnte. Er kommt aus Seattle und ist seit fünf Monaten in Südamerika unterwegs, ohne Pläne oder festes Ziel, als Tramp. So hat er sich selber genannt: Tramp. Er wolle so viel wie möglich sehen und sein Schulspanisch verbessern, das mit dem, was die Leute hier reden, wenig zu tun hat. In seinen ersten Tagen in Chile ist es ihm gegangen wie mir, er hat nichts verstanden, weil die Chilenen in Verkleinerungsformen sprechen, in einem irren Tempo und im Singsang, außerdem verschlucken sie bei jedem Wort die letzte Silbe und hauchen das S. »Bei dem Unsinn, den die Leute reden, ist es besser, man versteht sie nicht«, behauptet Tía Blanca.
Daniel ist durch ganz Chile gereist, hat die Atacama-Wüste mit ihren salzigen Mondlandschaften und ihren Geysiren gesehen, war in Santiago und anderen Städten, die ihn wenig interessierten, im Süden, wo die großen Wälder sind, die rauchenden Vulkane und smaragdfarbenen Seen, und er will weiter nach Patagonien und Feuerland zu den Fjorden und Gletschern.
Manuel und Blanca waren zum Einkaufen ins Dorf gegangen, kamen zu früh wieder und unterbrachen unser Gespräch, aber Daniel gefiel ihnen, und zu meiner großen Freude lud Blanca ihn ein, ein paar Tage bei ihr zu wohnen. Sie meinte, wer Chiloé besuche, müsse ein echtes Curanto essen, und am Donnerstag gebe es eins auf unserer Insel, das letzte für diese Saison und das beste des ganzen Archipels, das dürfe er sich nicht entgehen lassen. Daniel ließ sich nicht lange bitten, er hatte schon Erfahrungen gemacht mit der ungestümen Gastfreundschaft der Chilenen, die jedem Fremden, der ihnen
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