Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
Hände zu geben. Daniel hat seinen Schlafsack in eine Ecke des Wohnzimmers gelegt und schläft dort zusammen mit den Katzen. Wir essen abends immer spät, steigen in die Badetonne, reden, er erzählt mir von seinem Leben und seiner Reise, ich zeige ihm die Sternbilder am Südhimmel, erzähle von Berkeley und von meinen Großeltern, auch vom Internat in Oregon, behalte die Zeit in Las Vegas aber vorerst für mich. Wir müssen uns erst ein bisschen näher sein, sonst verscheuche ich ihn noch. Mir ist, als wäre ich im letzten Jahr kopfvor hinab ins Dunkel gestürzt. Wie ein Samenkorn oder eine Wurzelknolle war ich unter der Erde, und eine neue Maya Vidal drängte ins Freie; mir sind Wurzelfädchen gesprossen auf der Suche nach Feuchtigkeit, dann Wurzeln wie Finger auf der Suche nach Nahrung und schließlich Stiel und Blätter, die entschlossen ans Licht wollen. Jetzt treibe ich offenbar Blüten, deshalb kann ich die Liebe erkennen. Hier im Süden der Welt macht der Regen alles fruchtbar.
Tía Blanca ist zurück auf der Insel, aber trotz ihrer Leinenlaken hat Daniel nicht angedeutet, dass er gern wieder zu ihr ziehen würde, und wohnt weiter bei uns. Ein gutes Zeichen. Wir sind rund um die Uhr zusammen, ich arbeite nicht, weil Blanca und Manuel mich von allen Pflichten entbunden haben, solange Daniel hier ist. Wir haben über vieles gesprochen, aber noch hat er mir keine Gelegenheit gegeben, ihm meine Geheimnisse anzuvertrauen. Er ist viel zurückhaltender als ich. Auf seine Frage, warum ich in Chiloé bin, habe ich ihm erzählt, dass ich Manuel helfe und das Land kennenlerne, weil meine Familie chilenische Wurzeln hat, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Ich habe ihm das Dorf gezeigt, er hat den Friedhof gefilmt, die Pfahlbauten, unser armseliges, verstaubtes Museum mit seinen vier Ausstellungsstücken aus der Rumpelkammer und den Ölgemälden unbekannter Herkunft, außerdem Doña Lucinda, die mit ihren hundertneun Jahren noch immer Wolle verkauft und Kartoffeln und Marihuana erntet, die Truco-Poeten in der »Taverne zum lieben Toten« und Aurelio Ñancupel mit seinen Geschichten von Piraten und Mormonen.
Manuel ist begeistert, weil er endlich einen aufmerksamen Gast hat, der ihm bewundernd zuhört und nicht wie ich an ihm herumkrittelt. Wenn die beiden sich unterhalten, zähle ich die Minuten, die mit Legenden über Hexer und Monstern draufgehen; Daniel könnte sie sinnvoller mit mir allein verbringen. Er muss seine Reise in wenigen Wochen beenden, hat die Südspitze des Kontinents und Brasiliennoch nicht gesehen, und es ist ein Jammer, dass er seine kostbare Zeit mit Manuel verschwendet. Wir hätten Gelegenheit gehabt, uns näherzukommen, allerdings wenig wie mir scheint, und er hat nur einmal meine Hand genommen, um mir über eine Klippe zu helfen. Wir sind fast nie allein, Juanito Corrales, Pedro Pelanchugay und Fákin folgen uns auf Schritt und Tritt, und die alten Frauen aus dem Dorf haben ein Auge auf uns. Sie ahnen meine Gefühle für Daniel, und wahrscheinlich ist ihnen ein Stein vom Herzen gefallen, denn es waren absurde Gerüchte über mich und Manuel im Umlauf. Den Leuten kommt es verdächtig vor, dass wir zusammenwohnen, wo Manuel doch mehr als ein halbes Jahrhundert älter ist als ich. Eduvigis Corrales hat sich mit ein paar anderen verschworen, um mich zu verkuppeln, aber sie sollten es etwas unauffälliger versuchen, sonst schlagen sie Daniel noch in die Flucht. Manuel und Blanca schmieden ebenfalls Pläne.
Gestern fand das von Blanca angekündigte Curanto-Essen statt, und Daniel konnte es vollständig filmen. Die Leute aus dem Dorf sind freundlich zu den Touristen, weil die hier Kunsthandwerk kaufen und die Reiseveranstalter für das Curanto bezahlen, aber wenn alle wieder weg sind, macht sich ein Gefühl der Erleichterung breit. Diese Horden von Fremden, die neugierig ihre Nasen in die Häuser stecken und Fotos machen, als wären nicht sie die Exoten, sind den Inselbewohnern unangenehm. Bei Daniel ist das anders, er ist Gast in Manuels Haus, das öffnet ihm die Türen, und außerdem sehen ihn die Leute mit mir, deshalb lassen sie ihn filmen, was er möchte, sogar in ihren Häusern.
Diesmal waren die meisten der Touristen weißhaarige Rentner aus Santiago und sehr fröhlich, obwohl das Gehen im Sand beschwerlich für sie war. Sie hatten eine Gitarre dabei und sangen, während das Curanto garte, und dazu tranken sie Unmengen Pisco Sour; der trug zur allgemeinenAusgelassenheit bei. Daniel
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