Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
schnappte sich die Gitarre und sang mexikanische Boleros und peruanische Walzer für uns, die er unterwegs gelernt hat; seine Stimme ist nichts Besonderes, aber er trifft die Töne, und dass er wie ein Beduine aussieht, entzückte die Gäste.
Als von den Meeresfrüchten und dem Fleisch nichts mehr übrig war, tranken wir den Curanto-Sud aus den Tonschälchen, die immer als Erstes auf die heißen Steine gestellt werden. Der Geschmack ist unbeschreiblich, ein Konzentrat aus den Köstlichkeiten von Erde und Meer, das einen berauscht wie sonst nichts auf der Welt; wie ein heißer Strom fließt es durch einen hindurch und lässt das Herz höher schlagen. Es wurden jede Menge Witze über seine aphrodisische Wirkung gerissen, die Tattergreise aus Santiago verglichen ihn mit Viagra und bogen sich dabei vor Lachen. Aber es muss etwas dran sein, denn zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich das überwältigende und eindeutige Verlangen, mit jemandem zu schlafen – mit Daniel.
Ich hatte Gelegenheit, ihn aus der Nähe zu beobachten und auszuloten, was er für Freundschaft hält, was aber, wie ich weiß, etwas anderes ist. Er ist auf der Durchreise, bald wird er fort sein, er will sich nicht festlegen, vielleicht sehe ich ihn nie wieder, aber dieser Gedanke ist unerträglich, ich verscheuche ihn sofort. Man kann aus Liebe sterben. Manuel sagt das im Scherz, aber es stimmt, ich spüre einen verhängnisvollen Druck in der Brust, stärker und stärker, und wenn nicht bald etwas geschieht, dann platze ich. Blanca rät mir, ich soll den ersten Schritt machen, was sie selbst bei Manuel auch nicht tut, und ich traue mich nicht. Das ist lächerlich, in meinem Alter und bei meiner Vergangenheit könnte ich eine Abfuhr doch locker verkraften. Könnte ich? Würde Daniel mich abblitzen lassen, ich würde mich den Lachsen zum Fraß vorwerfen. Ich sehe angeblich nicht so schlecht aus. Wieso küsst er mich nicht?
Die Nähe dieses Mannes, den ich kaum kenne, macht mich high, und ich wähle das Wort mit Bedacht, schließlich weiß ich nur zu gut, was es bedeutet, aber ich finde kein anderes, mit dem sich dieser Gefühlsüberschwang beschreiben ließe und diese Abhängigkeit, die so sehr einer Sucht gleicht. Jetzt verstehe ich, warum sich die Liebenden auf der Bühne oder in Romanen umbringen oder vor Kummer sterben, wenn ihnen die Trennung droht. Die Tragödie mag groß und würdevoll sein und deshalb inspirierend wirken, aber ich will keine Tragödie, selbst wenn sie einen unsterblich macht, was ich will, ist ein unaufgeregtes Glück, ganz für uns allein und ohne Aufsehen, damit die Rachsucht der eifersüchtigen Götter nicht erwacht. Was rede ich bloß für ein Zeug! Es gibt überhaupt keine Basis für diese Phantasien, Daniel ist zu mir in der gleichen Weise freundlich wie zu Blanca, die seine Mutter sein könnte. Vielleicht bin ich nicht sein Typ. Oder ist er schwul?
Ich habe ihm erzählt, dass Blanca in den siebziger Jahren Schönheitskönigin war, und manche glauben, sie habe Pablo Neruda zu einem seiner Zwanzig Liebesgedichte inspiriert, dabei war Blanca 1924, als sie erschienen, noch gar nicht geboren. Auf was für Ideen die Leute kommen. Blanca spricht sehr selten über ihren Krebs, doch sie ist wohl auf die Insel gekommen, um sich davon und von ihrer Scheidung zu erholen. Krankheiten sind hierzulande Gesprächsthema Nummer eins, aber ich bin zufällig bei den beiden einzigen stoischen Chilenen gelandet, bei Blanca Schnake und Manuel Arias, die über ihre Leiden kein Wort verlieren, weil sie finden, das Leben ist schwer, und Jammern macht es schlimmer. Sie sind seit Jahren eng befreundet, teilen alles, außer den Geheimnissen, die er hütet, und der zwiespältigen Haltung, die sie gegenüber der Diktatur einnimmt. Sie verbringen Zeit miteinander, leihen sich Bücher, kochen zusammen, und manchmal sehe ich sie am Fenster sitzen und den Schwänen nachschauen, schweigend.
»Blanca sieht Manuel verliebt an«, bemerkte Daniel, ich bin also nicht die Einzige, der das auffällt. Nachdem wir ein paar Scheite in den Ofen geschoben und die Fensterläden geschlossen hatten, sind wir zu Bett gegangen, er in seinen Schlafsack, ich in mein Zimmer. Es war schon sehr spät. Ich lag wach unter drei Wolldecken in meinem Bett, hatte die Knie unters Kinn gezogen und meine gallegrüne Mütze auf dem Kopf, weil Eduvigis behauptet, die Fledermäuse würden sich in den Haaren verfangen, und ich konnte das Seufzen der Bretter im Haus hören, das
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