Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
fünften Monat. Sie ist dreizehn! Ich begreife nicht, dass niemand es gemerkt hat, Eduvigis nicht, Blanca nicht, noch nicht einmal die Krankenschwester; sie sah einfach nur dick aus.
Dann kam das Boot, und die Polizisten erlaubten Daniel und mir, bei Azucena zu bleiben, die völlig verschreckt war und weinte. In Castro begleiteten wir sie in die Notaufnahme, ich musste im Gang warten, aber Daniel machte seinen Arzttitel geltend und folgte der Bahre hinein. Azucena wurde noch in der Nacht operiert, um das Kind rauszuholen, das tot war. Es wird eine Untersuchung geben, ob es sich um eine willkürliche Abtreibung gehandelt hat, das ist in solchen Fällen gesetzlich vorgeschrieben und interessiert offenbar mehr als die Frage, wer ein dreizehnjährigesMädchen schwängert, worüber sich Blanca sehr aufgeregt hat und das zu Recht.
Azucena weigert sich zu sagen, wer es war, und auf der Insel raunt man schon vom Trauco, einem Zwerg aus der Sage mit Wanderstab und Axt, der in hohlen Bäumen haust und die Wälder beschützt. Er kann einem Mann mit dem Blick das Genick brechen und stellt Jungfrauen nach, um sie zu schwängern. Es muss der Trauco gewesen sein, heißt es, weil man nah beim Haus der Familie Corrales gelben Kot gefunden hat.
Eduvigis hat seltsam reagiert, sie weigert sich, ihre Tochter zu sehen, und will nichts hören von dem, was geschehen ist. Die Trinkerei, die Gewalt in den Familien und der Inzest sind der Fluch von Chiloé, vor allem in den abgelegenen Gegenden, und Manuel sagt, die Legende vom Trauco sei erfunden worden, um die Schwangerschaften von Mädchen zu erklären, die von ihren Vätern oder Brüdern vergewaltigt wurden. Bei der Gelegenheit habe ich auch erfahren, dass Juanito Corrales nicht nur der Enkel von Carmelo Corrales ist, sondern auch sein Sohn. Juanitos Mutter, die in Quellón lebt, ist von ihrem Vater missbraucht worden und war fünfzehn, als das Kind zur Welt kam. Eduvigis hat es aufgezogen wie ihr eigenes, aber im Dorf weiß man Bescheid. Ich frage mich, wie ein bettlägeriger Alter sich an Azucena vergehen konnte, es muss passiert sein, bevor ihm das Bein amputierte wurde.
Gestern ist Daniel abgereist! Der 29. Mai 2009 ist nach Pops Todestag der zweittraurigste Tag meines Lebens. Ich lasse mir »2009« auf das andere Handgelenk tätowieren, damit ich immer dran denke. Ich habe zwei Tage durchgeweint, Manuel sagt, ich würde noch austrocknen, er habe noch nie so viele Tränen gesehen, kein Mann würde so viel Kummer verdienen und schon gar nicht, wenn er bloß nach Seattle geht und nicht in den Krieg. Was weiß der schon! Sich zutrennen ist saugefährlich. In Seattle leben bestimmt eine Million Mädchen, die besser aussehen als ich und weniger schwierig sind. Wieso habe ich ihm meine Vergangenheit so haarklein erzählt? Jetzt hat er Zeit, alles zu analysieren, kann sogar mit seinem Vater darüber reden, und wer weiß, welche Schlüsse die beiden ziehen, wahrscheinlich, dass ich eine Suchtpersönlichkeit und neurotisch bin. Durch die Entfernung kühlt Daniels Begeisterung sicher ab, und dann denkt er, dass er von einer wie mir besser die Finger lässt. Wieso bin ich nicht mit ihm gegangen! Ach, wenn ich ehrlich bin, hat er mich nicht darum gebeten …
WINTER
Juni, Juli, August
Hätte man mich vor ein paar Wochen nach der glücklichsten Zeit meines Lebens gefragt, ich hätte geantwortet, die sei bereits vorbei, und an meine Kindheit mit meinen Großeltern in dem großen verwunschenen Haus in Berkeley gedacht. Nun allerdings würde ich sagen, dass ich meine glücklichsten Tage Ende Mai mit Daniel erlebte, und sofern keine Katastrophe geschieht, werden sie sich in naher Zukunft wiederholen. Neun Tage habe ich in seiner Gesellschaft verbracht, drei davon mit ihm allein hier in diesem Haus mit der Seele eines alten Zypressenbaums. In diesen traumhaften Tagen hat sich eine Tür in meinem Innern aufgetan, ich habe mich der Liebe genähert, und ihr Licht war so hell, dass ich es fast nicht aushalten konnte. Mein Pop hat einmal gesagt, die Liebe mache einen gut. Einerlei, wen wir lieben, ob wir wiedergeliebt werden oder die Beziehung von Dauer ist. Schon die Erfahrung, zu lieben, verwandelt uns.
Ob ich die einzigen Tage der Liebe in meinem Leben beschreiben kann? Manuel war Hals über Kopf für drei Tage nach Santiago gefahren, angeblich, um etwas wegen seines Buchs zu klären, aber Blanca sagt, er war beim Arzt und hat die Blase in seinem Gehirn untersuchen lassen. Ich glaube, er ist
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