Mayas Tagebuch: Roman (German Edition)
gefahren, damit ich mit Daniel allein sein kann. Wir waren wirklich allein, denn Eduvigis ist nach dem Aufruhr um die Schwangerschaft von Azucena, die sich im Krankenhaus in Castro noch von einer Infektion erholt, nicht mehr zum Putzen gekommen, und Blanca hat Juanito und Pedro verboten, uns zu stören. Ende Mai sind die Tage kurz und die Nächte lang und frostig, ideale Bedingungen, um einander näherzukommen.
Manuel reiste mittags ab und bat uns noch, aus den Tomaten Marmelade zu kochen, ehe sie faulten. Tomaten, Tomaten, wir ertrinken in Tomaten. Tomaten im Herbst, es ist nicht zu fassen. In Blancas Garten wachsen sie in rauen Mengen, und sie beschenkt uns so großzügig damit, dass wir nicht mehr wissen, was wir damit anstellen sollen: zu Soße verarbeiten, pürieren, trocknen, einkochen. Tomatenmarmelade ist eine Verzweiflungstat, keine Ahnung, wem die schmecken soll. Daniel und ich enthäuteten jedenfalls kiloweise Tomaten, schnitten sie klein, entfernten die Kerne, wogen sie und schütteten sie in Töpfe; dafür brauchten wir über zwei Stunden, die aber nicht vergeudet waren, denn zwischen den Bergen von Tomaten lösten sich unsere Zungen, und wir erzählten einander viel. Pro Kilo geputzter Tomaten gaben wir ein Kilo Zucker und etwas Zitronensaft dazu, kochten die Mischung gut zwanzig Minuten unter ständigem Rühren, bis sie eindickte, und füllten sie in saubere Gläser. Die vollen Gläser stellten wir dann noch mal für eine halbe Stunde in kochendes Wasser, dann waren sie, luftdicht verschlossen, bereit, gegen anderes getauscht zu werden, etwa gegen das Quittenbrot von Liliana Treviño und die Wolle von Doña Lucinda. Als wir fertig waren, war es dunkel in der Küche, und das Haus roch köstlich nach Zucker und Holzfeuer.
Wir setzten uns ans Fenster, um in die Nacht zu sehen, hatten ein Tablett vor uns mit Brot, Butterkäse, Manuels Räucherfisch und einer Salami, die Don Lionel Schnake geschickt hat. Daniel öffnete eine Flasche Rotwein, goss ein Glas ein, und als er das zweite füllen wollte, hielt ich ihn zurück, es war an der Zeit, ihm zu sagen, wieso ich nichts trank, und ihn zu beruhigen, dass er selbst trinken kann, wie er will, ohne sich um mich zu kümmern. Ich erzählte ihm allgemein von meiner Neigung zur Sucht, noch ohne allzu sehr auf mein Leben im letzten Jahr einzugehen, und sagte auch, dass ich das Trinken nicht vermisse, um irgendwelchen Kummer zu ersäufen, sondern in Momenten wie diesem, hier am Fenster, wenn es etwas zu feiern gibt, aber wir könnten ja trotzdem anstoßen, er mit Wein, ich mit Apfelsaft.
Wahrscheinlich muss ich für den Rest meines Lebens die Finger vom Alkohol lassen; das ist schwieriger als bei den illegalen Sachen, weil man überall drankommt und zum Trinken aufgefordert wird. Aber wenn ich ein Glas annehme, ist es vorbei mit meiner Willensstärke, es würde mir schwerfallen, das zweite abzulehnen, und von dort in die früheren Abgründe sind es bloß ein paar Schlucke. Ich hatte Glück, sagte ich zu Daniel, in den paar Monaten in Las Vegas hat sich die Abhängigkeit bei mir nicht übermäßig festgesetzt, und wenn ich jetzt in Versuchung gerate, denke ich an Mike O’Kelly, der als trockener Alkoholiker weiß, wovon er spricht, und zu mir gesagt hat, mit der Sucht sei es wie mit einer Schwangerschaft, es gibt bloß Ja oder Nein und nichts dazwischen.
Endlich, nach all den vielen Umschweifen, küsste mich Daniel, erst sehr zart, dass ich es kaum spürte, dann entschlossener, seine vollen Lippen auf meinen, seine Zunge in meinem Mund. Ein leichter Geschmack von Wein, seine festen Lippen, die wohlige Nähe seines Atems, sein Geruch nach Wolle und Tomaten, sein leises Atemholen, seine warme Hand an meinem Nacken. Er löste sich von mir und sah mich fragend an, da erst merkte ich, dass ich stocksteif war, die Arme an den Oberkörper gepresst hielt und die Augen aufgerissen hatte. »Entschuldige«, sagte er und ließ mich los. »Nein! Ich muss mich entschuldigen!«, rief ich viel zu heftig, was ihn erschreckt haben muss. Aber wie hätte ich ihm erklären sollen, dass das mein erster Kuss überhaupt war, alles vorher etwas anderes gewesen war, nichts mit Liebe zu tun gehabt hatte, dass ich mir seit einer Woche diesen Kuss ausmalte und jetzt, weil ich ihn mir sooft vorgestellt hatte, völlig versagte und aus lauter Angst, es würde vielleicht nie dazu kommen, bestimmt gleich weinen müsste. Ich wusste nicht, wie ich ihm das alles hätte sagen sollen, und das Beste,
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