mayday mayday ... eastern wings 610
ihr wichtiger als alles andere. Du aber hast es ihr verweigert. Was blieb ihr denn schon übrig, als zu gehen?«
»Mein Gott, was weißt du? Du bist zu jung, um das zu begreifen.«
»Zu jung? Mit achtzehn zu jung? Dir ist wirklich nicht zu helfen. Du rennst selbst jetzt noch vor der Wahrheit davon. Du willst nichts anderes als der großartige Paul Brückner bleiben, der coole Paul, der alles weiß und alles unter Kontrolle hat.«
Nun stand auch er auf. Er sah sie nicht, sie war nur ein Schatten, einer der vielen Schatten, die ihn belagerten. Er ging auf sie zu und fühlte, wie eine brennende Wärme auf seiner Stirn glühte. Er hob die Hand – ja, er glaubte, auch das getan zu haben, obwohl er nur noch eine vage Erinnerung an diese Sekunde besaß. Aber den Schrei vergaß er nicht: »Schlag doch! Genau das! Nun schlag doch. Warum schlägst du nicht? Prügel die Wahrheit weg!« Irgendwie brachte ihn dieser Satz zur Besinnung.
»Christa«, sagte er, »bitte geh jetzt! Oder geh wenigstens in dein Zimmer! Laß mich in Frieden! Laß mich allein!«
Doch sie, sie schüttelte nur den Kopf.
»Christa, was das alles für mich bedeutet, was du da gesagt hast, ist dir wohl nicht klar. Ich kann auch nicht verlangen, daß du mich verstehst. Aber eines will ich dir sagen: Kein Mensch, der ein bißchen nachdenkt, begeht freiwillig denselben Fehler ein zweites Mal. Noch ein Kind? Wieso denkst du nicht darüber nach, was ihm bevorgestanden wäre? Es hätte genau dasselbe mitmachen müssen, was du erlebt hast.«
Sie schwieg. Endlich.
Er erwischte Wilkens bei der Vormittagskonferenz. Als er der Sekretärin der ›Vereinigung Cockpit‹ anbot, noch einmal anzurufen, wehrte sie ab: »Nein, nein, Dieter erwartet bereits Ihren Anruf. Ich stell' Sie gleich durch.«
Dieter Wilkens' Stimme wirkte sachlich und entschlossen. Er kam sofort zum Thema. Die Kommission bestehe aus Direktor Rebner, dem stellvertretenden Leiter des LH-Wartungsdienstes, zwei Vertretern des Luftfahrt-Bundesamts, deren Namen er noch nicht kenne, Professor Raab von der TH Aachen, der sich seit Jahrzehnten einen Namen als Gutachter und Luftkatastrophendetektiv gemacht habe, und ihm, als dem Vertrauensmann der ›Vereinigung Cockpit‹. Zwei weitere Herren, beide Techniker der LH, seien bereits vor Ort, da sie unmittelbar nach Bekanntwerden der Katastrophe von der Direktion nach Palma geschickt worden seien. Sicher seien auch Leute der Falcon Air dort. Der LH-Linienflug nach Barcelona sei bereits gestartet, deshalb würde die Gruppe Rebner mit einer Condor-Maschine um 15 Uhr 30 abfliegen. Und falls er das nicht schaffe, könne man ihm selbstverständlich einen Platz in einem späteren Condor-Flug buchen. Um 17 Uhr zum Beispiel.
Die Lufthansa sparte. In ähnlichen Fällen stand eigentlich stets eine kleine zweistrahlige Dassault zur Verfügung. Nun, das war wirklich nicht das Problem.
Paul entschied sich für den späteren Flug. Er hätte zwar Frankfurt noch rechtzeitig erreichen können, aber der Gedanke, sich zwei Stunden lang den Fachdiskussionen der Eierköpfe aus der Technik auszusetzen, schien ihm unerträglich.
Um achtzehn Uhr vierzig sah er an diesem Tag unter der linken Fläche der Condor-Maschine die dunkle Küstenlinie der Insel heranwachsen. Das Meer – nichts als eine blaue Metallscheibe. Die Felsen der Bucht von Alcudia schienen es zu umarmen. Den Himmel darüber färbte der Abend.
Vorgestern, dachte er. Vorgestern um Mittag?
Er versuchte es sich vorzustellen. Er versuchte es bereits die ganze Zeit. Sie flogen dieselbe Luftstraße Upper Amber 7, überquerten gerade das Funkfeuer von Pollenca. Alle Verkehrspiloten kannten diesen Streckenabschnitt im Schlaf. Nun der Schwenk in Richtung Muro. Dann der nächste, diesmal Steuerbord, zum endgültigen Landeanflug. Stutz war ILS geflogen, Instrument Landing System. Er sah ja nichts. Und er mußte rein. Was blieb ihm schon übrig ohne Treibstoff?
Brückner warf einen Blick aus dem Fenster. Der große Condor-Jet war trotz Saison nur zur Hälfte besetzt. Das LH-Buchungscenter hatte fürsorglich die beiden Sitze neben ihm freigelassen. Dort lagen all die Zeitungen, aus denen seine Informationen stammten. Ein ganzer Stapel. Kein Blatt in Deutschland, das sich am zweiten Tag nach Bekanntwerden der Katastrophe nicht mit ihr beschäftigte. Ellenlange Artikel: die Gefahren des Flugverkehrs während der Touristenschwemme; der unbegreifliche Leichtsinn, der es erlaubte, während eines derartigen Gewittersturms
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