McCreadys Doppelspiel
Interessant.
»Haben Sie irgendeinen Grund für die Annahme, Genosse Oberst, daß Grauber persönlichen Kontakt aufnehmen wollte, oder meinen Sie, daß er nur in einem toten Briefkasten etwas abholen oder deponieren sollte?«
»Wir glauben, daß er zu einer persönlichen Begegnung hierher gekommen ist«, sagte Voß. »Der Unfall hat sich gestern um halb ein Uhr mittags ereignet, aber er hatte die Grenze bereits am Dienstag um elf Uhr passiert. Hätte seine Aufgabe nur darin bestanden, eine Nachricht in einem toten Briefkasten zu hinterlassen oder daraus eine zu entnehmen, hätte er dafür nicht mehr als vierundzwanzig Stunden gebraucht. Er hätte es bis zum Einbruch der Nacht am Dienstag erledigen können. So aber hat er die Nacht von Dienstag auf Mittwoch im Schwarzen Bären in Jena verbracht. Wir sind der Auffassung, daß er wegen einer direkten Übergabe in die DDR gekommen ist.«
Die Majorin jubelte stumm. Ein persönliches Treffen an einer Straße irgendwo in der Region Jena-Weimar, genau zu dem Zeitpunkt, da der von ihr Gejagte dort unterwegs war. Du warst es, den er treffen wollte, du Scheißkerl, dachte sie.
»Haben Sie diesen Grauber identifiziert?« fragte sie Voß. »Das ist doch sicher nicht sein richtiger Name.«
Seinen Triumph verbergend, schlug Voß einen Aktendeckel auf und reichte ihr eine Phantomzeichnung. Sie war mit Hilfe der zwei Polizisten aus Jena, die Grauber westlich von Weimar geholfen hatten, eine Mutter anzuziehen, und des Personals des Schwarzen Bären angefertigt worden. Sie war sehr gut gelungen. Wortlos reichte ihr Voß dann eine große Fotografie. Die beiden Konterfeis stimmten überein.
»Er heißt Morenz«, sagte Voß. »Bruno Morenz. Beamter im BND, Arbeitsplatz Köln.«
Ludmilla Wanawskaja war überrascht. Also war es eine westdeutsche Operation. Sie hatte immer vermutet, der Mann, dem sie nachspürte, arbeite für die CIA oder für die Engländer.
»Sie haben ihn noch nicht erwischt?«
»Nein, Genossin Major. Ich gebe zu, ich bin überrascht, daß es so lange dauert. Aber wir werden ihn erwischen. Gestern wurde spätabends das Polizeifahrzeug verlassen aufgefunden. In den Berichten heißt es, daß der Tank einen Einschuß hatte. Der Wagen dürfte, nachdem er gestohlen war, nur noch zehn bis fünfzehn Minuten lang benutzbar gewesen sein. Er wurde hier gefunden, in der Nähe von Apolda, nördlich von Jena. Also ist unser Mann jetzt zu Fuß unterwegs. Wir haben ein perfektes Signalement - groß, stämmig, ergraut, in einem zerknautschten Regenmantel. Er hat keine Papiere, spricht rheinländischen Akzent und ist körperlich nicht in guter Verfassung. Er fällt auf wie ein Kuhfladen auf der Autobahn.«
»Ich möchte bei der Vernehmung dabei sein«, sagte Ludmilla Wanawskaja. Sie war keine zimperliche Person und schon häufiger bei Verhören anwesend gewesen.
»Wenn das ein offizielles Ersuchen des KGB ist, werde ich ihm natürlich nachkommen.«
»Das wird es sein«, sagte die Majorin.
»Dann bleiben Sie in der Nähe, Genossin Major. Wir werden ihn bald haben, vermutlich bis Mittag.«
Ludmilla Wanawskaja kehrte zur KGB-Zentrale zurück, stornierte ihren Flug nach Moskau und rief über eine abhörsichere Leitung General Schaljapin an. Er erteilte sein Einverständnis.
Um zwölf Uhr mittags hob in Potsdam eine Andropow 32 der sowjetischen Luftwaffe von der Startbahn ab und begann den Flug nach Moskau. An Bord befanden sich General Pankratin und andere ranghohe Armee- und Luftwaffenoffiziere. Ein paar niedrige Chargen saßen weiter hinten, bei den Postsäcken. Eine >Botschaftssekretärin< in einem dunklen Kostüm war nicht in der Transportmaschine. Das fiel selbstverständlich niemandem auf.
»Er dürfte sich«, sagte Dr. Carr beim Hors d’oeuvre aus Melone und Avocado, »in einem dissoziativen oder Dämmerzustand oder in einer >Fugue< befinden.«
Er hatte aufmerksam zugehört, während McCready einen namenlosen Mann beschrieb, der offensichtlich einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Er hatte weder etwas davon erfahren noch danach gefragt, in welcher Art Mission der Betreffende unterwegs war und wo es zu diesem Zusammenbruch gekommen war, davon abgesehen, daß er sich auf feindlichem Territorium ereignet hatte. Die leeren Teller wurden weggenommen und die Seezunge entgrätet.
»Dissoziiert wovon?« fragte McCready.
»Von der Realität natürlich«, sagte Dr. Carr. »Es ist eines der klassischen Symptome dieser Art Syndrom. Vielleicht hat er schon vor
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