McCreadys Doppelspiel
diesem endgültigen Zusammenbruch Symptome der Selbsttäuschung entwickelt.«
Und ob er das hat, dachte McCready. Sich einzubilden, daß eine blendend aussehende Nutte sich in ihn verliebt habe, daß er mit ihr ein neues Leben beginnen, daß er als Doppelmörder ungestraft davonkommen könnte.
»Fugue«, fuhr Dr. Carr fort und nahm dabei eine Gabel voll von der zarten Sole meuniere, »bedeutet Flucht. Flucht vor der Realität, besonders vor einer unangenehmen, harten Realität. Ich nehme an, daß Ihr Mann sich inzwischen in einem wirklich schlechten Zustand befindet.«
»Was wird er nun tun?« fragte McCready. »Wohin wird er sich wenden?«
»Er wird eine Zuflucht suchen, irgendwo, wo er sich sicher fühlt, wo er sich verstecken kann, wo sich alle seine Probleme in Luft auflösen und die Leute ihn in Frieden lassen werden. Vielleicht regrediert er sogar in einen frühkindlichen Zustand. Ich hatte einmal einen Patienten, der sich, weil er keinen anderen Ausweg mehr wußte, ins Bett legte, wie ein Fetus zusammenkauerte, den Daumen in den Mund steckte und sich durch nichts bewegen ließ, das Bett wieder zu verlassen. Kindheit, verstehen Sie, Sicherheit, Geborgenheit. Keine Probleme. Übrigens, die Seezunge ist ausgezeichnet. Ja, noch einen Schluck Meursault... Danke.«
Das hört sich alles sehr schön an, dachte McCready, aber Bruno Morenz hat nichts, wo er Zuflucht suchen kann. Geboren und aufgewachsen in Hamburg, in Berlin, München und Köln stationiert, gab es für ihn in der Umgebung von Jena oder Weimar nichts, wo er unterschlüpfen konnte. Er goß sich Wein nach und fragte:
»Angenommen, es gibt nichts, wo er sich verstecken kann?«
»Dann fürchte ich, wird er verwirrt und orientierungslos umherirren, außerstande, sich selbst zu helfen. Hätte er ein Ziel, das sagt mir meine Erfahrung, könnte er seine Logik einsetzen, um es zu erreichen. Ohne Ziel.« sagte der Arzt achselzuckend, »werden sie ihn erwischen. Vermutlich haben sie ihn inzwischen schon. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit.«
Aber sie hatten Morenz noch nicht. Je länger sich der Nachmittag hinzog, um so wütender und frustrierter wurde Oberst Voß. Mehr als vierundzwanzig Stunden, bald dreißig, Vopos und Geheimpolizei an jeder Ecke, an jeder Straße in der Region Apolda-Jena-Weimar Sperren - und der große, desorientierte Westdeutsche mit seinem watschelnden Gang
schien sich schlicht in Luft aufgelöst zu haben.
Voß ging die Nacht hindurch in seinem Büro in der Normannenstraße immer wieder ergrimmt auf und ab; Ludmilla Wanawskaja saß auf dem Rand ihres Feldbetts im Quartier für unverheiratete Frauen in der KGB-Kaserne; auf Schloß Löwenstein und in Cheltenham saßen Männer über Funkgeräte gebeugt; an sämtlichen Landstraßen im südlichen Thüringen wurden Fahrzeuge mit Fackeln zum Anhalten veranlaßt; McCready trank in seinem Büro im Century House einen schwarzen Kaffee nach dem anderen. Nichts. Bruno Morenz war verschwunden.
5
Majorin Wanawskaja konnte nicht einschlafen. Sie bemühte sich, aber es half nichts. Hellwach lag sie im Dunkeln und beschäftigte sich mit der Frage, wie um Himmels willen die Ostdeutschen, die doch, wie es hieß, ihre eigene Bevölkerung fest im Griff hatten, in einem dreißig Quadratkilometer großen Gebiet einen Mann wie Morenz verlieren konnten. Hatte er sich als Anhalter mitnehmen lassen? Ein Fahrrad gestohlen? Kauerte er immer noch in einem Straßengraben? Was taten die Vopos dort unten eigentlich?
Um drei Uhr morgens war sie zu dem Schluß gekommen, daß irgend etwas fehlte, ein kleines Stück aus dem Puzzle. Wie brachte ein Mann, der halb von Sinnen und auf der Flucht war, es fertig, in einem von Vopos wimmelnden Gebiet der Entdeckung zu entgehen?
Um vier stand sie auf und machte wieder einen Besuch in der KGB-Zentrale, wo sie das Personal, das Nachtschicht hatte, mit ihrer Forderung nach einer abhörsicheren Verbindung zur SSD-Zentrale verstörte. Als der Kontakt hergestellt war, bekam sie Oberst Voß an den Apparat, der keinen Schritt aus seinem Büro getan hatte.
»Dieses Foto von Morenz«, sagte sie, »ist das aus neuerer Zeit?«
»Ungefähr vor einem Jahr aufgenommen«, sagte Voß verwirrt.
»Woher haben Sie es?«
»Von der HVA«, sagte Voß. Ludmilla Wanawskaja dankte ihm und legte auf.
Natürlich von der HVA, der Hauptverwaltung Aufklärung, dem Auslandsnachrichtendienst der DDR, der sich aus naheliegenden sprachlichen Gründen darauf spezialisierte, Agentennetze in der
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