McCreadys Doppelspiel
durchdringenden blauen Augen, die keine zwei Meter von ihm entfernt dasaß und in einem Buch las. Und sie ihrerseits blickte nicht zu dem mittelgroßen, ziemlich zerknautscht wirkenden Mann mit schütterem Haar hoch, der in einem grauen Regenmantel an ihr vorbeiging.
McCreadys Maschine startete pünktlich und landete um acht Uhr Ortszeit in Hannover. Majorin Wanawskaja flog um sechs Uhr ab und landete um neun in Berlin-Schönefeld. McCready nahm einen Mietwagen und fuhr an Hildesheim und Salzgitter vorbei seinem Ziel in den Wäldern um Goslar entgegen. Ludmilla Wanawskaja wurde von einem KGB-Wagen abgeholt und in die Normannenstraße gefahren. Sie mußte eine Stunde warten, bis Oberst Otto Voß, der gerade mit dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, ein Gespräch unter vier Augen führte, sie empfangen konnte.
McCready hatte sich von London aus angemeldet und wurde erwartet. Sein Gastgeber trat ihm an der Eingangstür seines ansehnlichen Hauses entgegen, eines wunderbar umgebauten Jagdhauses, das auf einer Hügelkuppe stand und bei Tageslicht einen weiten Ausblick über ein bewaldetes Tal bot. Nur sieben Kilometer entfernt flimmerten die Lichter von Goslar in der Dunkelheit. Wäre der Tag nicht schon vergangen gewesen, hätte McCready weit im Osten auf einem fernen Gipfel des Harzes das Dach eines hohen Turms sehen können. Man hätte ihn mit dem Turm eines Jagdschlößchens verwechseln können, doch das war er nicht. Es war ein Wachtturm, und er diente nicht der Wildschweinhatz, sondern der Jagd auf Frauen und Männer. Der Mann, den McCready besuchen gekommen war, hatte sich dafür entschieden, seinen behaglichen Lebensabend in Sichtweite jener Grenze zu verbringen, die ihm einst zu seinem Vermögen verholfen hatte.
Sein Gastgeber führte ihn in ein getäfeltes Wohnzimmer mit Hirschgeweihen und Wildschweinköpfen an den Wänden. In einem gemauerten Kamin prasselte ein Feuer; jetzt, Anfang September, waren die Nächte in dieser Höhe schon sehr kühl.
McCready fand seinen Gastgeber stark verändert. Er hatte zugenommen; der einst gertenschlanke Körper hatte Fett angesetzt. Er war natürlich immer noch klein, und das runde, rosige Gesicht unter dem weißen, wie Zuckerwatte wirkenden Haar sah noch harmloser aus als früher. Bis man in seine Augen sah. Schlaue, ja, verschlagene Augen, die zuviel gesehen hatten, die Augen eines Mannes, der viele Geschäfte, bei denen es um Leben oder Tod ging, gemacht, der in der Gosse vegetiert und doch alles überstanden hatte. Ein tückisches Kind des Kalten Krieges und einst der ungekrönte König der Berliner Unterwelt.
Zwanzig Jahre lang, vom Bau der Berliner Mauer 1961 bis zu seinem Rückzug ins Privatleben 1981, war Andre Kurzlinger im wahrsten Sinn des Wortes ein Grenzgänger gewesen. Die Berliner Mauer hatte ihn zum reichen Mann gemacht. Vor ihrem Bau hatten Ostdeutsche, die sich in den Westen absetzen wollten, nur nach Ost-Berlin fahren müssen, um von dort aus ungehindert nach West-Berlin zu gelangen. Dann, am 21. August 1961, wurden in der Nacht die großen Steinplatten in den Boden gerammt, und Berlin wurde zur geteilten Stadt. Viele versuchten, über die Mauer zu klettern. Einigen gelang die Flucht, andere wurden gefaßt und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Wieder andere wurden von MG-Salven getroffen und hingen wie Kaninchen im Stacheldraht, bis sie weggeholt wurden. Für die meisten war die Überwindung der Mauer eine einmalige, mutige Tat. Kurzlinger dagegen, bis dahin nicht mehr als ein Berliner Schwarzhändler und Gangster, machte aus der Fluchthilfe einen Beruf.
Er holte Menschen heraus - für Geld. Er ging in verschiedenen Verkleidungen nach drüben, um den Preis auszuhandeln, oder er schickte zu diesem Zweck Emissäre. Manche bezahlten in Ostmark ansehnliche Beträge. Damit pflegte Kurzlinger dreierlei Dinge zu kaufen, die in Ost-Berlin wirklich Qualität hatten: Koffer aus ungarischem Schweinsleder, Klassik-LPs aus der Tschechoslowakei und kubanische Zigarren. Sie waren derart billig, daß Kurzlinger trotz der Kosten, die entstanden, wenn die in den Westen geschmuggelt wurden, damit fette Profite machte.
Andere, die die DDR verlassen wollten, erklärten sich bereit, ihn in D-Mark zu entlohnen, sobald sie im Westen waren und Arbeit gefunden hatten. Nur wenige brachen ihr Versprechen. Kurzlinger war von peinlicher Genauigkeit, was das Eintreiben von Schulden betraf; er beschäftigte mehrere kräftige Mitarbeiter, die dafür zu sorgen
Weitere Kostenlose Bücher