McCreadys Doppelspiel
meist über ein neutrales Land tun, wobei der Agent während dieses Zwischenaufenthalts sich seine neue >Legende< zu eigen machte. Doch hin und wieder wollte der Staatssicherheitsdienst oder die HVA einen Mann zu einer Geheimmission in die Bundesrepublik schicken. Zu diesem Zweck legten die Ostdeutschen tatsächlich einen Schleichweg von Ost nach West an, unter ihren eigenen Grenzbefestigungen hindurch. Dafür wurden die Fachleute der Arbeitsgruppe Grenzen eingesetzt. Diese Techniker, die mitten in der Nacht arbeiteten (denn auch der bundesdeutsche Grenzschutz beobachtete die Grenze), gruben eine Vertiefung unter dem rasiermesserscharfen Draht, schlugen eine schmale Schneise durch das Minenfeld und hinterließen keine Spuren, wo sie am Werk gewesen waren.
Damit blieb noch der gepflügte Streifen, wo ein wirklicher Flüchtling vermutlich von den Suchscheinwerfern erfaßt und mit MGs beschossen wurde. Und zuletzt kam der Zaun auf der westlichen Seite. Diesen ließ die AGG intakt, schnitt nur ein Loch für den Agenten heraus und flickte es hinter ihm. In den Nächten, in denen Leute in den Westen geschleust wurden, strahlten die Suchscheinwerfer in die andere Richtung, und der Todesstreifen war zumeist, besonders im Spätsommer, dicht mit Gras bewachsen. Wenn der Morgen kam, hatte sich das Gras wieder aufgerichtet und damit alle Spuren verwischt.
Wenn die Ostdeutschen ein solches Unternehmen durchführten, gingen ihnen die DDR-Grenzer dabei zur Hand.
Ganz anders sah die Sache aus, wenn es umgekehrt ging; natürlich gab es dabei keine Mithilfe von Seiten der DDR.
»Siegfried war früher bei der AGG«, sagte Kurzlinger. »Bis er sich selbst durch einen ihrer geheimen Übergänge abgesetzt hat. Natürlich hat die Stasi den sofort blockiert. Siegfried, unser Freund hier muß hinüber. Kannst du ihm helfen?«
McCready überlegte, ob er Kurzlinger richtig eingeschätzt hatte. Wohl schon. Kurzlinger haßte Voß, und der Grimm eines Homosexuellen, der um seinen ermordeten Geliebten trauert, ist nicht zu unterschätzen.
Siegfried überlegte eine Weile.
»Früher hat es einen solchen Weg gegeben«, sagte er schließlich. »Ich habe ihn selber angelegt, aber es geheim gehalten, weil ich ihn selbst benützen wollte. Aber ich bin dann anders rausgekommen.«
»Wo war das?« fragte McCready.
»Nicht weit von hier«, sagte Siegfried. »Zwischen Bad Sachsa und Ellrich.«
Er holte eine Karte und deutete auf die beiden Kleinstädte im südlichen Harz, Bad Sachsa in der Bundesrepublik und Ellrich in der DDR.
»Darf ich die Papiere sehen, die Sie dabei haben?« fragte Kurzlinger. McCready reichte sie ihm über den Tisch. Siegfried sah sie sich genau an.
»Die sind in Ordnung«, sagte er.
»Um welche Zeit geht man am besten hinüber?«
»Um vier Uhr morgens. Bevor es Tag wird. Dann ist es am dunkelsten, und die Vopos sind müde. Sie suchen den Todesstreifen nicht so häufig ab. Wir brauchen aber Tarnkittel für den Fall, daß uns die Scheinwerfer doch erwischen. Die Tarnung kann uns das Leben retten.«
Sie sprachen noch eine weitere Stunde über Einzelheiten.
»Verstehen Sie, Herr McCready«, sagte Siegfried, »es ist schon fünf Jahre her. Vielleicht kann ich mich nicht mehr erinnern, wo es war. Ich habe eine Angelschnur auf dem Boden liegen lassen, wo ich mich durch das Minenfeld arbeitete. Es kann sein, daß ich sie nicht mehr finde. In diesem Fall kehren wir um. In das Minenfeld hineinzugehen, ohne den Weg zu kennen, den ich mir damals angelegt habe, wäre der sichere Tod. Kann sein, einer meiner ehemaligen Kollegen hat ihn entdeckt und blockiert. In diesem Fall kehren wir um - falls wir es noch können.«
»Ich verstehe«, sagte McCready, »ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Um ein Uhr machten sich Siegfried und McCready auf und traten die zweistündige Fahrt durch den Harz an. Kurzlinger stand auf der Schwelle der Haustür.
»Passen Sie mir auf Siegfried gut auf«, sagte er. »Ich tue das nur wegen eines anderen Jungen, den mir Voß vor langen Jahren genommen hat.«
Als sie losgefahren waren, sagte Siegfried: »Wenn Sie es hinüber schaffen, marschieren Sie die fünfzehn Kilometer bis Nordhausen. Umgehen Sie das Dorf Ellrich - dort gibt es Vopos, und die Hunde würden bellen. Nehmen Sie in Nordhausen den Zug nach Erfurt und von dort den Bus nach Weimar. Im Zug wie im Bus sitzen Arbeiter.«
Sie fuhren durch das schlafende Bad Sachsa und parkten den Wagen am Ortsrand. Siegfried stand mit einem Kompaß und einer
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