McEwan Ian
wenig Bedauern aufkommen, während sie weiter zuschlug, immer noch um den Tempel herum, bis sie von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Eine Zickzackreihe niedergemähter Nesseln legte ebenso von ihrem Werk Zeugnis ab wie die brennenden weißen Pickel an Füßen und Beinen. Die Spitze der Haselrute pfiff in weitem Bogen nieder, doch wurde es immer schwieriger, den Beifall der Menge heraufzubeschwören. Die Farben rannen aus den Bildern, das selbstverliebte Vergnügen an Balance und Bewegung verflog, der Arm schmerzte. Und so wurde sie zu einem einsamen Mädchen, das mit einem Stock nach Brennesseln schlug, bis es schließlich innehielt, die Gerte unter die Bäume warf und sich umschaute.
Der Preis für selbstvergessene Tagträumerei war immer aufs neue dieser Augenblick der Rückkehr, dieses erneute SichWiedereinfinden in das, was zuvor gewesen war und nun noch ein wenig schlimmer schien. Ihre Phantastereien, so reich an glaubwürdigen Details, wurden angesichts der harten Wirklichkeit zur flüchtigen Posse. Sie fand nur schwer zurück. Komm zurück hatte ihre Schwester immer geflüstert, wenn sie aus einem Alptraum erwachte. Briony war die göttliche Schöpfungsmacht abhanden gekommen, doch erst in diesem Augenblick der Rückkehr wurde ihr der Verlust schmerzhaft bewußt. An einem Tagtraum reizte schließlich gerade die Illusion, daß man sich seiner Logik hilflos ausgeliefert wähnte: Von der internationalen Konkurrenz gedrängt, sich mit den Besten der Welt in der obersten Liga zu messen, nahm sie jene Herausforderungen an, welche die Meisterschaft auf ihrem Feld – dem Nesselpeitschen – mit sich brachte, und sah sich getrieben, die eigenen Grenzen zu überschreiten, um die jubelnde Menge zufriedenzustellen und die Beste und – wichtiger noch – die Einzige ihrer Art. Doch natürlich war sie immer nur sie selbst gewesen, war es stets nur um sie selbst gegangen. Nun aber hielt sie sich wieder in der Welt auf, nicht in jener, die sie geformt hatte, sondern in der, von der sie geformt worden war, und sie fühlte, wie sie unter dem frühen Abendhimmel zusammenschrumpfte. Sie hatte keine Lust mehr, draußen zu sein, war aber auch noch nicht soweit, wieder ins Haus gehen zu können. Gab es denn nichts anderes im Leben, nur drinnen oder draußen? Konnte ein Mensch nicht auch woandershin? Sie kehrte dem Tempel den Rücken zu und wanderte langsam über den von Kaninchen perfekt gepflegten Rasen zur Brücke. Im Licht der sinkenden Sonne schwebte vor ihr eine Wolke von Insekten, die wie an einem unsichtbaren Gummiband auf und ab schnellten – ein rätselhafter Balztanz oder aber bloße Lebenslust, die sich jeder Deutung verweigerte. In einer Anwandlung von rebellischem Trotz stieg sie den steilen Grashang zur Brücke hinauf, und als sie die Zufahrt betrat, beschloß sie, hier stehenzubleiben und zu warten, bis ihr etwas Bedeutsames widerfuhr. Dies war die Herausforderung, die sie dem Sein stellte – sie würde sich nicht vom Fleck rühren, nicht zum Essen gehen, sich nicht mal bewegen, wenn ihre Mutter sie ins Haus riefe. Sie würde einfach auf der Brücke warten, still und beharrlich, bis Ereignisse, echte Ereignisse und nicht bloß Phantastereien, die Herausforderung annahmen und ihrer Bedeutungslosigkeit ein Ende setzten.
Acht
A m frühen Abend verfärbten sich die hohen Wolken im Westen zu einem verwaschenen, gelben Federstrich, der im Verlauf der nächsten Stunde kräftiger und schließlich so dunkel wurde, daß er das Sonnenlicht über den Wipfeln der riesigen Parkbäume zu rötlicher Glut filterte. Die Blätter wurden nußbraun, ölschwarz lugten die Äste zwischen dem Laub hervor, und das verdorrte Gras nahm die Farben des Himmels an. Ein Maler des Fauvismus mit einer Vorliebe für unmögliche Farben hätte sich eine solche Landschaft ausdenken mögen, eine, über der Himmel und Erde rot aufflammten und in der die bauchigen Stämme der älteren Eichen derart schwarz aussahen, daß sie beinahe blau wirkten. Die Sonne ging unter und verlor an Kraft, doch schien es noch heißer zu werden, denn die Brise, die den ganzen Tag ein wenig Abkühlung gebracht hatte, flaute allmählich ab, bis kein Luftzug mehr die drückende Hitze milderte.
Dieser Anblick, zumindest ein winziger Ausschnitt daraus, wäre für Robbie Turner durch eine verschlossene Dachluke sichtbar gewesen, hätte er sich die Mühe gemacht, sich in der Wanne hinzustellen, die Knie zu beugen und den Hals zu verrenken. Das kleine Schlafzimmer, das
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