McEwan Ian
auf den Lippen dahingerafft; und da war sie wieder, schmiedete, abgesondert von den anderen, giftige Ränke mit gesenktem Kopf; und dort drüben brüstete sie sich in einer Schar junger Bewunderer und streute Gerüchte über Briony aus. Bedauerlich, aber die Bewunderer mußten mit ihr sterben. Dann zeigte sie sich erneut, protzte schamlos mit ihren Sünden – Stolz, Völlerei, Neid, mangelnder Gemeinschaftssinn – und zahlte für jede mit dem Leben. In einer letzten gehässigen Tat fiel sie Briony zu Füßen und verbrannte ihr die Zehen. Kaum aber war Lola oft genug gestorben, fielen drei Paar junger Nesseln der Unfähigkeit der Vettern zum Opfer – ausgleichende Gerechtigkeit machte keine Unterschiede und kannte kein Erbarmen für die Kleinen. Dann wurde das Schreiben von Theaterstücken selbst zur Nessel, genaugenommen gleich zu mehreren: die Seichtheit, die vergeudete Zeit, das Durcheinander fremder Leben, diese hoffnungslose Schauspielerei – im Garten der Künste auch sie nur ein Unkraut, das dran glauben mußte.
Erleichtert über das Ende ihrer Karriere als Theaterschriftstellerin arbeitete Briony sich mit frischer Kraft um den Tempel herum vor, mied die Glasscherben und folgte dem äußeren Rand der Grünfläche, an dem das abgeknabberte Gras auf dichtes, unter den Bäumen hervorquellendes Gestrüpp traf. Das Geißeln der Nesseln wurde zur Selbstreinigung, und so knöpfte sie sich ihre Kindheit vor, für die sie keine Verwendung mehr hatte. Ein dürres Exemplar mußte für alles herhalten, was sie bis zu diesem Augenblick gewesen war. Doch damit nicht genug. Die Füße fest ins Gras gestemmt, befreite sie sich mit dreizehn Schlägen von jedem Jahr ihres alten Ichs. Sie peitschte auf die hilflose Abhängigkeit früher Kindheit ein, auf das übereifrige Schulmädchen, das stets gelobt werden wollte, und auf den dummen Stolz der Elfjährigen, die sich bei ihren ersten Geschichten ganz auf die gute Meinung ihrer Mutter verlassen hatte. Und während die Nesseln über ihre linke Schulter flogen oder ihr zu Füßen fielen, erzeugte die schlanke Gertenspitze einen Doppelton, sooft sie durch die Luft zischte. »Nie mehr!« ließ sie die Haselrute singen. »Genug damit!« Bald schon nahm die Bewegung selbst sie völlig gefangen, aber auch der Zeitungsartikel, den sie im Rhythmus ihrer Schläge formulierte. Kein Mensch auf der Welt war so gut wie Briony Tallis, die im nächsten Jahr ihr Land bei den Olympischen Spielen in Berlin vertreten und bestimmt eine Goldmedaille gewinnen würde. Man studierte sie sorgfältig, bestaunte ihre Technik, ihre Vorliebe, barfuß aufzutreten, um besser das Gleichgewicht zu halten, das in diesem anstrengenden Sport so überaus wichtig war, kam doch jedem Zeh eine eigene Aufgabe zu; man bewunderte die Art, wie sie jeden Streich aus dem Handgelenk führte und die Hand erst am Ende des Schlags herumriß; die besondere Methode, ihr Gewicht zu verteilen und die Hüftdrehung für zusätzlichen Schwung zu nutzen; ihre eigenwillige Art, die Finger der freien Hand zu spreizen – sie war eben eine Klasse für sich, eine Autodidaktin, die jüngste Tochter eines hohen Beamten. Man achte nur auf ihre Konzentration, wie exakt sie den Winkel berechnete, nie einen Schlag vertat und jede Nessel mit nahezu übermenschlicher Präzision vernichtete. Um es so weit bringen zu können, mußte man schon sein ganzes Leben diesem Sport widmen. Und wie nahe war sie doch daran gewesen, ihre Tage als Theaterschriftstellerin zu verplempern!
Plötzlich hörte sie in ihrem Rücken, wie die Kutsche über die erste Brücke rumpelte. Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. War dies seine kleine Schwester, die er zuletzt vor drei Monaten in der Waterloo Station gesehen hatte? Dieser internationale Sportstar? Es bereitete ihr ein seltsames Vergnügen, sich nicht nach ihm umzudrehen; schließlich mußte er langsam einsehen, daß sie auf die Meinung anderer Leute nicht mehr angewiesen war, auch nicht auf seine. Sie war ein Champion, vertieft in die komplexen Anforderungen ihrer Kunst. Außerdem würde er bestimmt die Kutsche anhalten, um ihr die Böschung hinunter entgegenzulaufen, so daß ihr nichts anderes übrigbliebe, als diese Unterbrechung mit gebotenem Anstand hinzunehmen.
Verklingendes Hufgeklapper und das Rattern der Räder, die sich über die zweite Brücke entfernten, bewiesen vermutlich, daß ihr Bruder wußte, wie sehr der Meisterin Distanz und professioneller Respekt gebührten. Trotzdem fühlte sie ein
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