McEwan Ian
Wirklichen zuwandte: Sie war wütend auf ihn, und sie würde erst recht wütend sein, wenn sie erfuhr, daß er zum Abendessen kam. Da draußen im grellen Licht hatte er nicht rasch genug daran gedacht, Leons Einladung abzulehnen. Unwillkürlich hatte er sein Ja herausgeblökt, und nun mußte er sich ihrem Zorn stellen. Wieder stöhnte er auf, ohne sich darum zu kümmern, ob man ihn unten hörte, und dachte daran, wie sie sich vor ihm ausgezogen hatte – so unbekümmert, als ob er noch ein Kind wäre. Natürlich. Jetzt wurde es ihm klar. Sie hatte ihn demütigen wollen. Da, es war heraus, die unleugbare Tatsache. Demütigung. Die hatte sie gewollt. Sie war keineswegs bloß liebreizend und hold, und er konnte es sich nicht leisten, ihr nachzugeben, denn sie war eine Kraft, die ihn in Untiefen ziehen, ihn ertränken konnte.
Aber vielleicht – er drehte sich auf den Rücken – sollte er ihre Wut gar nicht ernst nehmen. Benahm sich Cecilia nicht ziemlich theatralisch? Bestimmt hatte sie ihm etwas anderes sagen wollen, hatte ihm in ihrer Wut zeigen wollen, wie schön sie eigentlich war, um ihn so an sich zu binden. Doch konnte er einer derart eigennützigen, Sehnsucht und Hoffnung entsprungenen Idee trauen? Ihm blieb nichts anderes übrig. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Hände hinterm Kopf, spürte, wie die Haut trocknete und kühler wurde. Was hätte Freud dazu gesagt? Wie wäre es mit: Hinter demonstrativer Empörung verbarg sie das unbewußte Verlangen, sich vor ihm entblößen zu wollen. Schön war’s! Doch es war bloß ein Satz, nur ein Versuch, das Vorgefallene zu entkräften, und dies, was er nun durchlitt, diese Qual war die Strafe dafür, daß er die dämliche Vase zerbrochen hatte. Er würde Cecilia nie wiedersehen. Er mußte sie heute abend wiedersehen. Ihm blieb keine Wahl, er würde hingehen. Und sie würde ihn dafür verachten. Er hätte Leons Einladung ablehnen sollen, doch kaum war sie ausgesprochen, hatte sein Herz ausgesetzt, war ihm sein geblöktes Ja entwichen. Heute abend würde er in einem Raum mit ihr sein, und dieser Körper, den er gesehen hatte, die Leberflecke, die blasse Haut, das rote Muttermal, würde nur von ihren Kleidern verhüllt werden. Er allein kannte ihn – und Emily natürlich. Doch nur er würde an ihn denken. Und Cecilia würde nicht mit ihm reden und ihn nicht ansehen wollen, aber selbst das wäre besser, als hier zu liegen und zu stöhnen. Nein, wäre es nicht. Es wäre schlimmer, aber er wollte es trotzdem. Er wollte es unbedingt. Er wollte, daß es schlimmer war.
Schließlich erhob er sich, halb angezogen, ging ins Arbeitszimmer, setzte sich an die Schreibmaschine und überlegte, was er ihr für einen Brief schreiben sollte. Wie Bad und Schlafzimmer lag das Arbeitszimmer eingezwängt unterm Dachfirst, ein Flur zwischen den beiden anderen Räumen, kaum mehr, gerade mal zwei Meter lang und anderthalb Meter breit. Wie in jedem Zimmer gab es auch hier eine von unbehandeltem Kiefernholz umrahmte Dachluke. In der Ecke lag die Wanderausrüstung – Stiefel, Stock und Lederrucksack. Ein zerkerbter Küchentisch nahm fast den gesamten Platz ein. Robbie kippte mit dem Stuhl nach hinten und musterte den Tisch, als wäre er sein Leben. Vor der schrägen Zimmerwand türmten sich die Akten und Papiere aus den letzten Monaten vor dem Examen. Er konnte mit den Notizen eigentlich nichts mehr anfangen, doch verband er zuviel Arbeit, zuviel Erfolg damit, um sie jetzt schon ausmisten zu wollen. Halb darüber ausgebreitet lagen einige Wanderkarten von Nord-Wales, Hampshire und Surrey sowie von der längst aufgegebenen Wanderung nach Istanbul. Und da war ja auch der Kompaß mit der schlitzförmigen Spiegelpeilung, mit dem er mal ohne Karte nach Lulworth Cove gelaufen war.
Unter dem Kompaß lagen Audens Gedichte und Housmans A Shropshire Lad. Am anderen Tischende türmten sich diverse Geschichtsbücher, theoretische Abhandlungen und Handbücher über Landschaftsgärtnerei. Zehn getippte Gedichte lugten unter dem ablehnenden Bescheid der Zeitschrift Criterion hervor, von Mr. Eliot höchstpersönlich mit seinen Initialen versehen. Unmittelbar vor Robbie stapelten sich die Bücher, denen sein jüngstes Interesse galt: Auf dem geöffneten Exemplar von Gray’s Anatomy lag ein Folioblatt mit eigenen Zeichnungen. Er hatte sich als Aufgabe gesetzt, sämtliche Knochen zu zeichnen und so ihre Namen auswendig zu lernen. Zur Ablenkung rief er sich einige in Erinnerung, murmelte ihre
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