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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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religiöse Bedeutung das Augenmerk auf sich lenken und die ländliche Idylle betonen sollte. Er stand auf einer vorspringenden Sandbank, also nahe genug am Ufer, um ein interessantes Spiegelbild auf das Wasser zu werfen; und aus den meisten Blickwinkeln wurde die Säulenreihe mit dem Ziergiebel darüber auf das hübscheste von den Ulmen und Eichen halb verdeckt, die um den Tempel wuchsen. Von nahem machte er allerdings einen traurigeren Eindruck: Feuchtigkeit war durch eine defekte Isolierschicht gedrungen und hatte stellenweise den Stuck abbröckeln lassen. Irgendwann im späten neunzehnten Jahrhundert wurden dann einige unbeholfene Reparaturarbeiten ausgeführt, der Zement aber nicht angestrichen, weshalb er sich braun verfärbt hatte und dem Gebäude ein fleckiges, kränkliches Aussehen verlieh. An anderen Stellen stachen die faulenden Träger wie die Rippen eines verhungernden Tieres hervor. Die zweiflügelige Tür, die einst in einen runden Raum mit Kuppeldach geführt hatte, war längst entfernt worden und der Steinboden dick mit Blättern, Moder und dem Kot von allerhand Vögeln und anderem Getier bedeckt. Ende der zwanziger Jahre hatten Leon und seine Freunde sämtliche Scheiben in den hübschen, georgianischen Fenstern eingeschlagen. Die hohen Nischen, früher einmal von Statuen besetzt, waren leer bis auf die schmutzigen Überreste einiger Spinnennetze. Möbel gab es keine, eine Bank ausgenommen, die Leon und seine frechen Schulfreunde vom Kricketplatz im Dorf hereingetragen hatten. Die Beine aber, die man ihr ausgerissen hatte, um damit die Fenster zu zerschlagen, verrotteten längst draußen zwischen den Brennesseln und dem unverwüstlichen Glas.
Gerade so wie der Pavillon am Schwimmbecken hinter den Stallgebäuden auf den Tempel anspielte, stellte der Tempel selbst einen Verweis auf das ursprüngliche Haus der Gebrüder Adam dar, doch wußte in der Familie Tallis niemand, worin dieser Verweis eigentlich genau bestand. Vielleicht im Stil der Säulen oder des Ziergiebels, vielleicht auch in den Fensterproportionen. Zu den verschiedensten Gelegenheiten, vor allem jedoch an Weihnachten, wenn man sich gern großherzig zeigte, schlenderten Familienmitglieder über die Brücken und versprachen, der Sache auf den Grund zu gehen, doch dachte niemand mehr daran, sich die nötige Zeit zu nehmen, wenn das hektische neue Jahr erst einmal begonnen hatte. Stärker noch als der Verfall war es diese verlorene Erinnerung an den bedeutenderen Verwandten des Tempels, die das kleine Gebäude zu einem derart kummervollen Anblick machte. Der Tempel war das Waisenkind einer imposanten Gesellschaftsdame: Heute, da der Kleine niemanden mehr hatte, der für ihn sorgte, niemanden, zu dem er aufschauen konnte, hatte er sich gehenlassen und war vor der Zeit gealtert. Wo zwei Landstreicher frevelhafterweise einmal ein Freudenfeuer entzündet hatten, um einen Karpfen zu braten, der ihnen nicht gehörte, prangte an der Außenwand ein spitz zulaufender, mannsgroßer Rußfleck. Und auf dem von Kaninchen kurz gehaltenen Gras hatte lange ein verschrumpelter Stiefel gelegen. Doch als Briony sich umsah, war der Stiefel verschwunden, wie letzten Endes wohl alles verschwinden würde. Mit eigenem schwarzen Trauerflor gedachte der Tempel des abgebrannten Herrenhauses, und seine Sehnsucht nach jenem imposanten, unsichtbaren Wesen verbreitete eine unbestimmt weihevolle Atmosphäre. Seine tragische Geschichte aber bewahrte den Tempel davor, bloße Imitation zu sein.
    Schlägt man nur lang genug Brennesseln nieder, stellt sich wie von selbst eine Geschichte ein, weshalb Briony schon bald völlig in ihrem Tun aufging und auf grimmige Weise zufrieden war, obwohl jedermann bei ihrem Anblick geglaubt hätte, ein fürchterlich schlechtgelauntes Mädchen vor sich zu haben. Sie hatte von einer schlanken Haselnußgerte die kleineren Äste abgestreift, und da es allerhand zu tun gab, machte sie sich unverzüglich ans Werk. Eine große Brennessel mit arrogantem Blick, den Kopf scheu gesenkt, die mittleren Blätter wie auf Unschuld plädierende Hände nach außen gewandt – das war Lola, und obwohl sie um Gnade winselte, mähte die fast ein Meter lange Rute sie mit sirrendem Hieb in Kniehöhe ab und schleuderte den wertlosen Torso durch die Luft. Das war zu schön, um damit gleich wieder aufzuhören, und so waren die nächsten Brennesseln alle Lola; die da, die sich vorbeugte, um ihrer Nachbarin etwas ins Ohr zu flüstern, wurde mit einer abscheulichen Lüge

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