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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Bezeichnungen vor sich hin: Kopfbein, Hakenbein, Dreiecksbein, Mondbein… Die bislang gelungensten, in Tinte und mit Buntstiften ausgeführten Bilder, die einen Querschnitt durch Ösophagus und Lungentrakt zeigten, hatte er an die Deckenbalken über seinem Tisch geheftet. Füllfederhalter und Stifte sammelte er in einem Zinnbecher, an dem der Henkel fehlte. Die Schreibmaschine war eine noch ziemlich neue Olympia, die er an seinem einundzwanzigsten Geburtstag bei einem festlichen Mittagessen in der Bibliothek von Jack Tallis geschenkt bekommen hatte. Reden waren gehalten worden, von Leon ebenso wie von seinem Vater, und bestimmt war auch Cecilia dabeigewesen. Doch Robbie konnte sich nicht daran erinnern, auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt zu haben. Ob sie wohl wütend war, weil er sie jahrelang ignoriert hatte? Noch so eine fatale Hoffnung.
An den äußersten Rändern des Schreibtisches einige Photographien: auf dem Rasen vorm College die Theatertruppe von Was ihr wollt, er selbst als Malvolio, gelb bestrumpft mit gekreuzten Kniegürteln. Wie passend. Noch ein Gruppenphoto, er mit jenen dreißig französischen Kindern, die er in einem Internat in der Nähe von Lilie unterrichtet hatte. Zuletzt in einem metallenen, von Grünspan überzogenen Jugendstilrahmen ein Photo von Grace und Ernest, seinen Eltern, drei Tage nach der Hochzeit. Hinter ihnen schob sich ein Kotflügel ins Bild – bestimmt nicht ihr eigener Wagen, und weiter weg ragte eine Darre über eine Ziegelmauer. Es seien schöne Flitterwochen gewesen, hatte Grace stets behauptet, zwei Wochen Hopfen pflücken mit der Familie ihres Mannes, und geschlafen hatten sie in einem Zigeunerwagen auf dem Hof. Sein Vater trug ein kragenloses Hemd. Halstuch und Gürtelstrick sollten ihm wohl etwas Verwegenes, etwas Zigeunerhaftes geben. Kopf und Gesicht waren rund, wirkten aber nicht besonders fröhlich, da der Vater nur gezwungen lächelte, weshalb sich auch seine Lippen nicht öffneten; und statt die Hand seiner jungen Braut zu halten, hatte er die Arme vor der Brust verschränkt. Sie dagegen lehnte sich an ihn, schmiegte ihren Kopf an seine Schulter und hielt sich umständlich mit beiden Händen an Hemd und Ellbogen fest. Grace, immer fidel und sanftmütig, lächelte für zwei, doch willige Hände und ein freundlicher Charakter sollten nicht genügen. Man könnte meinen, daß Ernest in Gedanken bereits woanders war, daß er bereits sieben Sommer voraus zu jenem Abend enteilte, an dem er seine Arbeit als Gärtner der Familie Tallis aufgeben und ohne Gepäck, ja sogar ohne Abschiedsbrief auf dem Küchentisch das Haus verlassen würde, um eine Frau und einen sechsjährigen Sohn zurückzulassen, die sich den Rest ihres Lebens fragen sollten, was aus ihm geworden war.
Ansonsten lagen zwischen korrigierten Seiten und Stapeln von Wälzern über Landschaftsgärtnerei und Anatomie diverse Briefe und Postkarten: unbezahlte Collegerechnungen, Briefe von Tutoren und Freunden, die ihm zum Abschluß als Jahrgangsbester gratulierten, was er immer wieder aufs neue mit Vergnügen las, sowie andere Schreiben, in denen vorsichtig nach seinen Plänen gefragt wurde. Der zuletzt eingegangene, in bräunlicher Tinte auf offiziellem Whitehallpapier verfaßte Brief stammte von Jack Tallis, der ihm seine Unterstützung für die Gebühren zusagte, die beim Medizinstudium anfielen. Dann gab es da noch Anmeldeformulare, zwanzig Seiten lang, und dicke, engbedruckte Zulassungsbroschüren aus Edinburgh und London, deren methodische, straffe Prosa einen Vorgeschmack auf eine noch ungewohnte Form akademischer Strenge zu bieten schien. Doch heute lockten sie nicht mit Abenteuer und Neubeginn, sondern drohten mit Exil. Er sah sie vor sich - die weit entfernte Straße mit ihren trostlosen Reihenhäusern, die billige Bleibe mit Blümchentapete, düsterem Kleiderschrank und wollener Bettdecke, die neuen ernsten Freunde, meist jünger als er, Gefäße mit Formaldehyd, dumpf widerhallende Vorlesungssäle – und in jedem Bild fehlte sie.
Vom Stapel Gartenbücher nahm er sich den Band über Versailles, den er sich aus der Bibliothek der Familie Tallis geborgt hatte, und zwar an jenem Tag, an dem ihm zum ersten Mal aufgefallen war, wie gehemmt ihn ihre Gegenwart machte. Er hatte vor der Tür gekniet, um die Arbeitsschuhe auszuziehen, als ihm auffiel, wie es um seine Strümpfe stand - Löcher an Ferse und Zehen, und bestimmt rochen sie nicht gerade angenehm –, weshalb er einer plötzlichen Regung

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