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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Vorgeschmack auf jene Begeisterung heraufbeschwören, die ihnen der Auftritt vor den Erwachsenen morgen abend in der Bibliothek bescheren würde, da sagte Pierrot: »Ich hasse Theater und solchen Kram.«
»Ich auch, und verkleiden tu ich mich schon gar nicht«, erklärte Jackson.
Beim Mittagessen hatte es geheißen, man könne die Zwillinge allein dadurch auseinanderhalten, daß Pierrot ein dreieckiges Stückchen Haut am linken Ohrläppchen fehle, weil er als kleines Kind einen Hund gequält hatte. Lola wandte den Blick ab. Briony fragte gefaßt: »Wieso haßt du denn Theater?« »Alles bloß Angeberei.« Achselzuckend verkündete Pierrot diese selbstverständliche Tatsache.
Briony wußte, daß manches für seine Ansicht sprach. Genau deshalb liebte sie das Theater, zumindest ihre eigenen Stücke: Alle Welt sollte sie vergöttern. Doch wie sie nun die Jungen betrachtete, unter deren Stühlen sich Pfützen sammelten, bis das Wasser schließlich in den Ritzen zwischen den Dielen versickerte, da ahnte sie, daß die beiden ihre ehrgeizigen Ziele niemals verstehen würden. In versöhnlichem Ton fragte sie: »Glaubt ihr wirklich, daß Shakespeare bloß angeben wollte?« Schüttelspeer? Pierrot blickte über den Schoß seiner Schwester hinweg zu Jackson. Dieser kriegerische Name klang irgendwie vertraut und roch nach Schulmief und erhobenem Zeigefinger, aber die Zwillinge bestärkten sich gegenseitig. »Das weiß doch jeder.« »Und ob.«
Als Lola zu reden begann, wandte sie sich erst an Pierrot und fuhr dann mitten im Satz zu Jackson herum. In Brionys Familie hatte Mrs. Tallis beiden Töchtern nie etwas gleichzeitig mitteilen müssen. Briony konnte nun erleben, wie man so etwas anstellte: »Ihr spielt in diesem Stück mit, sonst knallt’s, und dann sag ich’s den Eltern.«
»Wenn du uns eine knallst, dann sagen wir’s den Eltern.« »Entweder ihr spielt jetzt mit, oder ich sag’s den Eltern.« Daß die Drohung geschickt abgeschwächt worden war, verminderte keineswegs ihre Wirkung.
Pierrot sog an seiner Unterlippe. »Und was sollen wir tun?« gab er klein bei.
Lola hätte ihm am liebsten sein verklebtes Haar zerzaust: »Denkt dran, was die Eltern gesagt haben. In diesem Haus sind wir Gäste, und wir sind – was sind wir? Kommt schon. Was sind wir?«
»Zu-vor-kom-mend«, verkündeten die Zwillinge trübselig im Chor und stolperten dabei kaum über das ungewohnte Wort. Lola drehte sich zu Briony um und lächelte. »Bitte, erzähl uns doch mehr über dein Stück.«
Die Eltern. Die institutionalisierte Macht, die diesem Plural innegewohnt hatte, sollte bald zerstieben, falls dies nicht bereits geschehen war, doch durfte es im Augenblick noch nicht eingestanden werden, und selbst den Jüngsten wurde Tapferkeit abverlangt. Briony schämte sich plötzlich für ihre selbstsüchtige Haltung. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß ihre Vettern und ihre Kusine gar nicht mitspielen wollten, da sie ihr eigenes Drama, ihre eigene Katastrophe durchlebten und sich nur als Gäste des Hauses zum Mitwirken verpflichtet fühlten. Noch schlimmer aber war Lolas Klarstellung, daß sie selbst auch bloß gezwungenermaßen mitmachte. Die empfindsamen Quinceys wurden genötigt. Doch – Briony mußte sich anstrengen, diesen schwierigen Gedanken zu fassen – war es nicht auch Manipulation, wenn Lola die Zwillinge vorschob, um durch sie etwas über sich selbst auszusagen, etwas Feindseliges, Zerstörerisches? Briony spürte, daß sie gegenüber dem älteren Mädchen im Nachteil war, daß ihr zwei Jahre Raffinesse fehlten, die, gegen sie ins Spiel gebracht, das eigene Stück plötzlich kläglich und peinlich wirken ließen.
Und während sie Lolas Blick konsequent mied, umriß sie den Inhalt des Stücks, obwohl dessen Stumpfsinn sie nun zu überwältigen drohte. Sie brachte es einfach nicht mehr über sich, ihren Verwandten die Aufregungen einer Premiere auszumalen. Kaum war sie fertig, sagte Pierrot: »Ich will den Grafen spielen. Ich will der Böse sein.«
Und Jackson erwiderte bloß: »Ich bin der Fürst. Ich bin immer der Gute.«
Briony hätte sie umarmen und ihre kleinen Gesichter küssen können, antwortete aber nur: »Das wäre also geregelt.« Lola streckte die Beine, strich den Rock glatt und machte Anstalten zu gehen. Mit einem traurigen, aber vielleicht auch bloß resignierten Seufzer meinte sie noch: »Da du das Stück geschrieben hast, nehm ich mal an, daß du selbst die Arabella spielst…«
»Ach was«, sagte Briony. »Nein,

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