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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Fliegenaugen. Facetten, eigentlich Dutzende von weitwinkligen Linsen. Wie sah sie wohl aus dem Blickwinkel eines Insekts aus? Lag in jeder Facette ein Bild von ihr? Oder wurde ihr Gesicht zu einem kolossalen Weitwinkeleffekt verzerrt, der die Fliege verwirrte und sie ziellos hin und her, auf und ab irren ließ? Synne Nielsen schlug in die Luft, traf aber daneben. Dann wandte sie ihren Kopf langsam zur Tür.
    Etwas explodierte. Etwas in ihrem Kopf. Alles wurde blank und weiß, als habe sie in ein altmodisches Blitzlicht gestarrt. Eine Phosphorbombe, sie kniff die Augen zusammen, es tat weh. Mitten in dem vielen Weiß lag ein Gedanke. Er war unpassend. Er war alles überschattend. Statt sich Gedanken zu machen wie »Das ist die Frau meines Lebens«, oder, vielleicht noch besser: »Für diese Frau werde ich alles tun, sogar mein Leben würde ich für sie opfern«, erlebte sie, dass etwas anderes und viel weniger Edles sich ausbreitete und alles andere beiseite schob; ein einziger Gedanke pflanzte sich durch ihren ganzen Leib fort, wanderte durch ihren Hals nach unten und dann in alle Glieder; sie spürte ein Prickeln in den Fingerspitzen, wie nach einem langen Aufenthalt in der Kälte, oder wie durch ein tiefes Schuldgefühl.
    Weil die Vorstellung so allüberschattend und so weit jenseits aller Moral war, packte die Schuld sie schon an diesem Junitag. Nicht in der Weise, dass sie da und dort ihre Anwesenheit gespürt hätte, dafür war kein Platz; aber später, viel später, in allen Rückblicken, allen selbsterforschenden, selbstüberführenden, schmerzhaften retrospektiven Momenten, begriff sie, dass die Schuld vorhanden gewesen war, schon von Anfang an.
    Als ihre Augen einander trafen, und noch ehe Synne Nielsen etwas anderes registrieren konnte als eben die Augen der Frau in der Tür (nicht einmal ihre Kleidung; in den folgenden Jahren gelang es ihr trotz großer Anstrengungen nie, sich daran zu erinnern, was Rebecca an diesem ersten Tag angehabt hatte), dachte sie genau dieses, nicht mehr und nicht weniger:
    »Mit dieser Frau will ich ins Bett.«
    Innerhalb von zwei Zehntelsekunden, vielleicht sogar noch rascher, berechnete Synne Nielsen die Lage und stellte fest, dass es um ihre Chancen katastrophal schlecht bestellt war. Und sie gelangte zu einer Entscheidung: Sie wollte es versuchen.
    Als sie das gedacht hatte, entließ sie Rebecca Schultzens Gesicht aus ihrem Blick, und dann ließ sie diesen zum Fenster in der gegenüberliegenden Wand wandern.
    Obwohl es erst drei Uhr nachmittags war, warf die Sonne ihre bleichorangenen Strahlen auf ein verschmutztes, staatliches Fenster, aber das von einer Stellung gleich oberhalb des Horizontes aus. Synne Nielsen streckte langsam den Arm aus, ballte die Faust, hob den Daumen und kniff das eine Auge wieder zu. Die Entfernung von den niedrigen Hausdächern, die den eigentlichen Horizont verbargen, die jedoch absolut nicht als Hochhäuser bezeichnet werden konnten, diese Entfernung, die nur einige Fingerlängen hätte betragen dürfen – angesichts der Uhrzeit eben –, diese Entfernung bestand aus einer Daumennagelbreite. Das war unbegreiflich.
    War die Erde dabei, aus ihrer Jahrmilliarden alten Bahn zu fallen? Lag dort draußen in Wirklichkeit eine riesige Supernova, eine entfernte Verwandte der Sonne, die damit drohte, den ganzen Erdball zu versengen und alles Leben auszurotten, ohne Vorwarnung, jählings, allen modernen wissenschaftlichen Berechnungsmodellen zum Trotz? Die Position dieser glühenden Scheibe wäre um acht Uhr abends ganz normal erschienen, vielleicht auch noch um neun, aber jetzt? Eine halbe Stunde vor Feierabend? So mitten im Sommer, wie es überhaupt nur möglich war! Es war dermaßen erschütternd, dass sie zweifellos nur deshalb keinen Alarm schlug, weil sie sie zuerst gesehen hatte. Sie ließ statt dessen den Arm sinken und erbrach sich. Ehe Synne Nielsen sich ausgekotzt hatte, war die Frau wieder verschwunden.
    An diesem Tag hatten zwei außergewöhnliche Ereignisse stattgefunden. Sie war der Frau ihres Lebens begegnet, und die Sonne schickte sich zum Absturz an.
3
    Ich blute. Wie ein Schwein. Es tut weh und ist außerdem verdammt unpraktisch. Bei dieser Hitze kann ich keine Jeans tragen, und nur in Jeans liegen die klobigen, hoffnungslosen Binden wirklich so, wie sie sollen. Meine Shorts sind alle hell. Jetzt sind sie gefleckt, mit pfannkuchengroßen Schandflecken besudelt; ich verstecke sie, damit das Zimmermädchen sie nicht findet. Ich muss Chlor

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