Mea culpa
Arbeitstage. Das reichte nicht.
Sie musste ihre Pläne ändern. Sie musste sofort Urlaub nehmen. Sie konnte nicht warten. Sie musste zur selben Zeit Urlaub haben wie Rebecca.
Die staatliche Urlaubsplanung kam ihr vor wie ein Flugzeugträger, der sich im März auf einen Kurs festlegte und von diesem danach durch keine Erschütterung zum Abweichen zu bewegen war.
Plötzlich erkrankte Synnes Mutter schwer. Eigentlich war sie kerngesund, aber sie lebte so weit entfernt, dass niemand ihr jemals auf die Schliche kommen würde. Synnes Gewissen versetzte ihr einen Stich, als sie eine Lungenentzündung erfand, die einfach nicht weichen wollte und in der die Ärzte einen beginnenden Krebs mutmaßten, vor allem unter dem mitleidigen Blick der Sekretärin, der sich für einen Moment mit Tränen zu füllen schien. Dann zwang sie sich, daran zu denken, was eine Freundin einst unternommen hatte, um ihnen einen Flug zu besorgen, zu Studienzeiten, als sie sich nur ein Stand-by-Ticket hatten leisten können, und der Versuch allein war mitten in der schlimmsten Urlaubszeit ja fast schon ein Auswuchs purer Idiotie gewesen. Als sie vom dritten überfüllten Flugzeug abgewiesen wurden, brach die Freundin vor der Frau am Ausgang in bitterliches Weinen aus. Synne starrte rot und verlegen den Boden an, als die Freundin mit fabelhaftem Talent von ihrer verstorbenen Mutter erzählte, die am nächsten Tag beigesetzt werden sollte, und wie schrecklich es doch wäre, wenn sie (als einzige Anverwandte) und ihre Freundin (ihre Stütze in dieser harten Zeit) nicht rechtzeitig einträfen. Sie durften auf den Notsitzen mitfliegen. Eine tote Mutter war eine ärgere Lüge als eine kranke. Und das hier war eine viel schlimmere Krise als damals.
Die Sache konnte geklärt werden.
Und sie schämte sich nicht einmal.
Ihr blieben zwei Tage und vier Wochen, um Rebecca Schultz kennen zu lernen.
Das Hundebaby war zwölf Wochen alt und bot einen unwiderstehlichen Anblick. Es war aus einem Impuls heraus angeschafft worden, in der Verliebtheit eines Augenblicks, und es ließ sich unmöglich als etwas anderes bezeichnen als eben als Hund. Die Pfoten waren eine Nummer zu groß, die Beine zwei zu kurz. Das eine Ohr war geknickt, das andere war eine bewegliche Radarantenne, die über einen braunen, seidenweichen Schädel zu tanzen schien. Der Nachbar, sein Besitzer, hatte ihm und seinen fünf Geschwistern ein düsteres Schicksal prophezeit, falls sich nicht bald jemand dieser Tiere erbarmte. Die Hündin – die Mutter der bedauernswerten Kleinen – hatte Synne einen bis zum Bersten mit Kummer erfüllten Blick zugeworfen. Und damit legte Synne sich auf eine Weise einen Hund zu, von der wirklich nur abzuraten war, sie las ihn von der Straße auf und ging. Schon im Treppenhaus bereute sie diese spontane Tat, als das Kleine in der verzweifelten Angst der Trennung auf sie pisste, während es wimmerte und fiepte und zu Mama zurückwollte.
Natürlich hatten Hunde keinen Zutritt zum Ministerium. Nur für den Blindenhund der Telefonistin galt eine Ausnahme, aber der sah auch eher aus wie ein vollgefressenes Schwein als wie ein Exemplar der Gattung Canaris familiaris. Leider war am Geruchssinn des Schweinehundes nichts auszusetzen, und dumm war er auch nicht. Da aber Synne auf dem Weg zum Büro zwangsläufig an diesem Wachschwein vorübermusste, hatte sie das Hundebaby in eine große Tasche gestopft und es zuvor einer ausgiebigen Dusche mit »Shalimar« unterzogen. Ob das wirkte, oder ob der Blindenhund diesen Besuch einfach nicht gefährlich fand, konnte sie nachher nicht sagen. Jedenfalls erreichte sie mitsamt dem Hundebaby ihr Büro, ohne dass irgendwer Alarm geschlagen hätte. Doch als das Kleine dann aus der Tasche befreit war, lief es Amok.
Die kleine Hündin wand sich aus Synnes Armen, rannte über den Linoleumboden, legte vor dem Fenster eine ansehnliche Wurst ab und nagte dann das Schreibtischbein an. Der Schaden war schon unwiderruflich geschehen, als Synne sich endlich zusammenriss und das Tier wieder auf den Arm nahm. Das Hundeverbot kam ihr plötzlich gar nicht mehr so unbegreiflich vor.
Synne Nielsen wusste nicht, was sie machen sollte. Bei dieser törichten Schmuggelaktion hatte sie einen Hintergedanken gehabt, einen sonnenklaren Hintergedanken, der sich jetzt aber ganz und gar verdüstert hatte. Sie hielt einen Hund in den Armen und kam sich vor wie ein Schaf.
Rebecca Schultzens Büro lag am entgegengesetzten Ende eines endlos langen Ganges. Synne
Weitere Kostenlose Bücher