Mea culpa
brauche. Ich brauche nichts zu empfinden. Nichts zu denken. Nicht zu weinen. Vielleicht nicht einmal zu existieren.
Darin liegt ein gewisser Trost.
Sogar für eine wie mich.
2
An dem Tag, an dem alles anfing, fanden zwei außergewöhnliche Ereignisse statt. Das eine hätte eigentlich allgemeine Bestürzung auslösen müssen, was es aber nicht tat. Im Nachhinein, wann immer sie versuchte, diese Episode Sekunde für Sekunde erneut zu erleben, was seltsamerweise immer leichter fiel, ging ihr auf, wie offensichtlich die Chronologie der ganzen Angelegenheit war: Sie hatte sie zuerst gesehen. Normalerweise hätte sie sich so erschrocken, dass sie Alarm geschlagen hätte; aller Wahrscheinlichkeit nach hätte sie irgendeine kompetente Instanz angerufen. Das Meteorologische Institut vielleicht, oder die Universität, wo es Menschen gibt, die Ahnung von diesen Dingen haben. Es war doch überaus eigentümlich, dass es nur ihr aufgefallen war. Aber sie musste sich einfach mit der Tatsache abfinden, dass in den Zeitungen kein Wort darüber stand und dass es auch in Radio und Fernsehen unerwähnt blieb. Also hatte sie es wirklich als Einzige gesehen.
Es geschah an einem Freitag im Juni vor etlichen Jahren, als das Jahrhundert seinem Tod noch nicht so bedrohlich nahe gerückt war. Es war in dem Jahrzehnt, in dem Gro Harlem Brundtland und Mammon um die Wette herrschten, und nicht beide würden das neue Jahrzehnt erleben. Die Menschen in Norwegen entdeckten Allradantrieb und Champagner, und sie näherten sich einem weiteren leichtsinnigen Mittsommerfest. Der Sommer hatte lange mit dem Frühling Verstecken gespielt, aber die Lunte brannte, und plötzlich war die Temperatur gestiegen.
Sie arbeitete im Ministerium, und zwar seit drei Jahren. Immer in derselben Position. Als Sachbearbeiterin. Ohne jemals in den häufigen Diskussionen über mögliche Beförderungen aufzutauchen, die jeden Arbeitsplatz mit Fluktuation prägen. Sie bewarb sich nicht einmal um einen besseren Posten. Dahinter steckte keine Faulheit, wie ihre Umgebung in boshaften Momenten leise und laut denken konnte. Jedenfalls nicht nur. Sie selbst betonte hartnäckig, sie habe ganz einfach praktische Gründe. Ein langweiliger und übersichtlicher Job gab ihr nämlich Zeit für das, womit sie ihr Leben wirklich verbringen wollte.
Synne Nielsen arbeitete jeden Tag bis kurz nach halb vier und tat genau das, was von ihr erwartet wurde. Niemals mehr. Aber auch nicht weniger, sie war keine Drückebergerin. Die Arbeit wurde erledigt, routinemäßig und phantasielos, na gut, aber ihr Büro war aufgeräumt und der Stapel der unerledigten Post nie so hoch, dass er nicht mit einem energischen Krafteinsatz zum Verschwinden gebracht werden konnte.
Dieser Freitagnachmittag war überaus schön und warm. Im Vorzimmer saßen fünf kaffeetrinkende Menschen, in einem von Rauch und sommerlichen Erwartungen geschwängerten Raum. Die meisten redeten wild durcheinander, niemand hörte wirklich zu, und alle schauten regelmäßig auf die Uhr. Synne Nielsen hatte der Tür den Rücken gekehrt und registrierte deshalb als Letzte, dass sie dort stand.
Rebecca Dorothea Faber Lange Schultz. Obwohl sie den Namen Schultz durch ihre Eheschließung erworben hatte, bestand doch Grund zu der Frage, welche Eltern wohl auf solche Ideen verfielen. Natürlich konnte es sich um kleinbürgerliche Snobs gehandelt haben, die in dem Irrglauben schwebten, der Name mache die Frau. Es war aber auch möglich, dass die Eltern an der Wiege gestanden und gesehen hatten, dass dieses Kind – dieses wunderbare Kind – etwas so Besonderes war, so schön und so hinreißend, dass es eine solche Perlenkette aus Namen ertragen könnte. Abgesehen davon, dass Rebecca Dorothea Faber Lange Schultz vermutlich niemals in einer Wiege gelegen hatte und bei ihrer Taufe wohl schon einige Jahre alt gewesen war. Denn getauft war sie bestimmt, so sah sie einfach aus, sie hatte etwas Zartes, Heiliges, das ihren Kopf umgab, es war natürlich ein Ring aus dunklem Licht, was Synne bei genauerem Nachdenken hätte erkennen können, es konnte aber auch von ihrem Haarshampoo herstammen.
Vernünftigerweise nannte sie sich einfach Rebecca Schultz.
Sie war Abteilungsleiterin.
Alle setzten sich gerade, als wollten sie aufspringen und davonstürzen. Alle, außer Synne Nielsen.
Langsam und gemessen hob sie die Arme über den Kopf. Eine schlaftrunkene Fliege brummte vor ihr herum. Cyclorapha diptera. Sie lächelte bei dieser Erinnerung.
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