Mea culpa
erschöpft, ich bin müde, ich will nach Hause, aber ich kann nicht fahren, solange ich es nicht weiß. Vielleicht glaubt sie, ich hätte ihr schon an jenem ersten Tag im Ministerium ihr Leben gestohlen, an dem Tag, an dem die Sonne so unwissenschaftlich tief am Himmel stand und an dem ich mich ihretwegen erbrochen hatte. Ich habe ihr das Leben geraubt, habe mich aufgedrängt, habe ihr fast alles genommen, was sie hatte, nur an die Kinder hat sie sich geklammert, nur vor den Kindern habe ich mich gebeugt, immer war ich die Nummer 5, aber immer eben auch das: Nummer 5. Mir war das genug, immer genug. Aber mit welchem Recht habe ich in ihre Familie eingegriffen, wer hat mir erlaubt, so viel zu zerstören, eine Familie auseinander zu reißen, nur weil ich den einzigen Menschen auf der ganzen Welt gefunden hatte, den ich wollte, den Menschen, über den Bücher geschrieben werden, doch den niemand außer mir jemals gefunden hat, die perfekte Geliebte, von der wir unser Leben lang träumen, während wir uns fast immer damit abfinden, dass es sie nicht gibt; hatte ich das Recht, Rebecca mit beiden Händen zu packen und sie nie wieder loszulassen? Hasst sie mich deswegen? Hatte Frau Lange im Grunde Recht, als sie in meine Wohnung kam und mir vorhielt, wie unerhört mein Verhalten doch sei, wie unmoralisch?
Ich gäbe alles darum zu wissen, was Rebecca mir vorwirft. Ich möchte meine Schuld auf etwas schieben, das ich verstehen kann; und wenn ich es nicht verstehe, dann will ich wenigstens wissen, was ich getan habe, das in Rebeccas Augen so entsetzlich falsch war. Eine Sünde. Unmoralisch. Ich suche und suche nach diesem Gefühl, das mich reinigen kann, das mich so weit läutern kann, dass ich die Heimkehr verdient habe, und Scham und Schuld werden mir die Kraft geben, einen Bogen um Rebecca zu machen, eine Kraft, die ich noch nicht besitze, weshalb ich den halben Erdball zwischen uns legen muss, um das Versprechen zu halten, dass ich nur mit letzter Kraft herausflüstern konnte:
»Ich verspreche, dich in Ruhe zu lassen. Ehrenwort.«
Einen Monat nach der Beerdigung (die ich aus der Ferne beobachtet habe, ich war nicht in der Kapelle, ich stand nur da, hinter einem hohen Grabstein aus dem Krieg und sah die vielen Trauergäste kommen und zum Schluss Rebecca, an Christians Arm, sie stützten einander, und auch die Kinder waren schwarz gekleidet; der erste Schnee dieses Herbstes betonte die Kontraste), einen Monat darauf sah ich sie dann wieder. Ich hatte nach ihr gesucht, meine Sehnsucht war unvorstellbar, ich konnte nicht schlafen, und ich brachte Cetacea um, impulsiv und plötzlich, die Tierärztin musterte mich vorwurfsvoll, aber sie konnte nicht mehr leben, denn ich wollte niemanden in meiner Wohnung haben. Jeden Morgen stand ich vor Rebeccas Haus, ein Stück entfernt, so weit, dass ich nicht gesehen werden konnte – und deshalb konnte ich Rebeccas letzten Befehl erfüllen –, und ich sah sie kommen, zusammen mit den Kindern, den übrig gebliebenen Kindern, denen, die noch da waren, schweigsam schob sie sie in den Wagen. Sie sahen mich nicht, Rebecca nicht und die Kinder nicht.
Aber einen Monat später, ich musste etwas essen, brauchte einen Imbiss, Brot und Käse, und das gab mir den Vorwand, den Laden aufzusuchen, in dem sie immer einkaufte, und dort sah ich sie. Unvermittelt, über dem Kühltresen, ich wollte Gemüse kaufen, ich musste ja etwas essen. Ihre Haare waren jetzt silbergrau, wo sie doch rabenschwarz gewesen waren, als wir an einem Freitag vor sehr langer Zeit in einem Straßencafé Weißwein und Bier getrunken hatten, und sie glänzten auch nicht mehr so. Ihr Gesicht war blass, und ihre Augen kamen mir schräger vor. Vielleicht waren sie nur geschwollen. Wir blickten einander ganz kurz an, über Tiefkühlwaren im Sonderangebot, durch den Frostrauch des Kühltresens, und ich betete in Gedanken ganz innig, dass sie mich hören sollte. Sie sah mich an, sah mich wirklich an, aber ihre Augen waren nur ein Schlusspunkt, oder vielleicht ein Ausrufezeichen, hinter dem, worum sie mich gebeten, dem Befehl, den sie mir erteilt hatte, fünf Wochen zuvor, in der Nacht, in der Benedicte ihr Leben verloren hatte. Sie ließ eine Packung Fischauflauf fallen, kehrte mir den Rücken zu und hatte ihren wogenden Gang verloren.
Und da wusste ich, dass sie niemals zurückkommen würde.
Und da beschloss ich, fortzugehen.
Ich muss zu Ende packen, morgen früh fahre ich nach Neuseeland.
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Kiri Te Kanawa. Ich denke an Kiri
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