Mea culpa
Großmutter hatte kleine, blassblaue Augen, die liebsten Augen auf der Welt. Sie waren geschlossen, als Synne an ihr Bett trat. Die Mutter beugte sich über sie, streichelte ihre Stirn, berührte eine Locke, die immer hineinfiel, und flüsterte:
»Jetzt ist Synne hier, Mutter. Synne ist gekommen.«
Es dauerte eine Weile, dann schaute die Großmutter durch einen Spalt zwischen ihren Lidern zu ihr hoch. Synne beugte sich vor, und obwohl die Großmutter im Sterben lag, obwohl ihre Lunge mit Wasser bis zum Bersten gefüllt war und fast keinen Sauerstoff mehr ans Gehirn weiterleiten konnte, wusste Synne doch, dass sie gesehen wurde. Die Augen der Großmutter hafteten an ihren, nicht lange, aber sie hafteten an ihren, und die Ahnung eines Lächelns huschte über das Gesicht, ehe die Großmutter wieder in sich versank.
Für Synne wurde Platz gemacht, oben, bei der Schulter der Großmutter, damit sie ihre Hand halten konnte; sie war trocken und knotig und vertraut.
»Warum haben sie ihr die Zähne nicht rausgenommen?«, flüsterte Synne.
Das Gebiss, das der Großmutter so seltsam peinlich gewesen war – es war schrecklich für sie, dass sie in jungen Jahren schon die Zähne verloren hatte –, saß noch immer in ihrem Mund, wenn auch locker, so, dass es sich im Takt ihres keuchenden Atems bewegte. Es sah nicht hässlich aus (genau diese Erkenntnis, dass es weder hässlich noch abstoßend war, es war nicht einmal peinlich, überraschte Synne). Aber es sah unbequem aus, es schien sie daran zu hindern, das bisschen Luft einzuziehen, die sie trotz allem brauchte, um die wenigen Stunden durchzuhalten, die ihr vom Leben noch blieben.
»Opa will das so«, flüsterte die Mutter zurück.
»Aber das muss sie doch stören?«
»Nein, der Arzt hat gesagt, das sei kein Problem. Sie spürt es gar nicht.«
Synne saß fast dreißig Stunden bei ihrer Großmutter, nur unterbrochen von einer Mahlzeit und ab und zu einer Tasse Kaffee. Irgendwann, nicht lange, nur für einige Minuten, war sie mit ihr allein.
Mehr als alles andere hätte sie ihr gern gesagt, wie lieb sie sie hatte. Es tat Synne weh, es war eine schreckliche Last; sie wollte, dass die Großmutter die Augen öffnete und sie ansah, die Tochter ihrer Tochter, das erste Enkelkind, aber Blickkontakt war nicht nötig, war absolut nicht nötig, sie wollte es trotzdem sagen, sie war überzeugt davon, dass die Großmutter sie hören konnte, Synne wollte so schrecklich gern etwas sagen, das all die schönen Sommer umfasste, die Ferien, die ganze Geborgenheit, die sie in dem kleinen Haus in Kragero immer gefunden hatte, wenn alles andere schwierig und unüberwindbar gewesen war, und die vielleicht nicht im Haus gelegen hatte, sondern im Herzen der Großmutter.
Aber sie konnte nichts sagen. Synne weinte und weinte, das gute Weinen, das nur von blauer Trauer erfüllt ist und keine Spur von Reue oder von dem Wunsch enthält, etwas anderes getan zu haben. Aber nicht das Weinen hinderte sie am Sprechen. Sie traute sich einfach nicht. Die Angst überkam sie, dass das zum Tod führen könnte. Wenn Synne sagte, dass sie sie liebte, würde die Großmutter sterben. Sie war wie besessen von dieser Vorstellung: Die Großmutter warte nur auf die verbale Bestätigung dessen, was sie schon wusste; wenn die Bestätigung käme, würde sie lächeln und vielleicht die Augen öffnen und wieder schließen, um sich dann in die Ewigkeit führen zu lassen, an die sie nie geglaubt hatte.
Synne nahm ihre Hand mit noch festerem Griff und führte sie an ihr Gesicht. Sie schmiegte die Stirn in die Handfläche und dachte wieder und wieder:
»Ich habe dich so lieb, Oma.«
Vielleicht strömte der Gedanke in die Hand der Großmutter und durch ihren Arm in deren eigene Wirklichkeit hinter dem immer angestrengteren Atem und den geschlossenen Augen. Jedenfalls bewegte sie die Finger. Zwar nur ganz wenig, eine winzige Bewegung, aber Synne spürte sie, sie brannte an ihrer Stirn.
Dann starb Synnes Großmutter, in der frühen Nacht zum Sonntag, würdevoll und ruhig, so, wie sie gelebt hatte, umgeben von den Ihren.
Als sie nach Kragern zurückkehrten, war der Fahnenmast gebrochen. Er hatte zwar schon lange gekränkelt, aber sie waren doch alle davon überzeugt gewesen, dass er den Winter noch überleben würde.
Auch das Haus schien zu trauern, als sie angefahren kamen, mit mehreren Wagen, langsam über das letzte Stück des Weges; sie hätten für einen Trauerzug gehalten werden können, wäre da nicht der
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