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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Verachtung erfüllter Blick, es liegt eher eine Art Frage darin, eine Bewertung vielleicht, sie scheint mich forschend zu mustern.
    Es muss mit dem Jungen zu tun haben, auch wenn ich glaube, dass unser seltsames Gespräch sie beruhigt hat. Sie muss nicht so häufig herkommen. Ich habe es oft gesagt, Aufräumen zum Beispiel kann ich selbst, ich ziehe es sogar vor, mein eigenes Chaos zu beseitigen. Kochen ist nicht nötig, ich habe keinen Hunger. Sie winkt ab und kommt trotzdem. Ich glaube, sie will sich vergewissern, dass es dem Jungen gut geht.
    Petter kommt jeden Tag her, und ich schicke ihn nie wieder fort. Geht er zur Schule, dann kommt er gegen zwei. Am liebsten spielt er mit dem Flugsimulator, aber er findet es auch schön, wenn ich ihm vorlese. Wenn ich keine Zeit habe, um mit ihm zusammen zu sein (ich habe jetzt angefangen, auch tagsüber zu schreiben), dann schaut er mir von der Fensterbank aus zu, auf der er stundenlang hocken kann. Seltsamerweise stört mich das nicht. Es tut gut, ihn dort zu wissen, es tut gut, dass in dem Zimmer, in dem ich bei der Arbeit sitze, noch ein weiteres Menschenherz schlägt. Er begreift, dass er mich nicht unterbrechen darf, seine Geduld ist unbegreiflich, wenn ich an sein Alter denke.
    Asha findet es gut, dass Petter hier ist. Sie freut sich darüber, dass ich ihm alles Mögliche beibringe. Sie will nur wissen, dass es ihm gut geht. Das sehe ich ihren Augen an, ihren Bewegungen. Aber das ist nicht alles.
    Ich bin sicher, dass Asha ein Geheimnis hat.
    Das hindert mich daran, die Nähe zu erleben, die ich suche, vor der ich mich aber fürchte. Ich will mehr mit ihr reden. Sie soll kein Ersatz für die Freundinnen und Freunde werden, die ich verlassen habe, für die Familie; und niemand kann sie ersetzen. Aber ich sitze hier in der Dunkelheit und wünsche mir einen anderen erwachsenen Menschen; Petter, der in meinem Bett schläft, was er jetzt einmal die Woche und manchmal auch häufiger macht, ist nicht genug. Er ist ein lebendiges Wesen, ja gut, aber ich muss auf ihn aufpassen; er ist eine Verantwortung, von der ich nicht weiß, ob ich sie auf die Dauer haben will und deren Verschwinden ich fürchte.
    Ein anderer erwachsener Mensch.
    Es ist dunkel, und der Sicherungskasten vor der Tür summt.
    Der Junge ist warm. Er schmiegt sich an mich, wenn ich ins Bett komme, ohne es selbst zu wissen.
    Ich schiebe ihn behutsam fort und drehe ihm den Rücken zu.
30
    Noch hatte kein Schneepflug etwas zerstören können. Der Schnee atmete leicht und frisch, kein Auspuffrohr bespuckte alles mit graubraunem Dreck und erstickte die kleinen Flocken, die vor Freude tanzten, weil sie die Osloer Innenstadt für sich hatten. Es war die Nacht zwischen dem Heiligen Abend und dem ersten Weihnachtstag, es war drei Uhr morgens.
    Rebecca und Synne gingen auf Oslos Prachtstraße Karl Johan spazieren. Es war schwer, fast so, wie barfuß über einen einsamen Sandstrand zu gehen, der Schnee reichte ihnen bis zu den Knöcheln und war blauweiß.
    »Ich habe gewusst, dass du kommen würdest«, sagte Synne.
    Sie nahm Rebeccas Hand, die Lederhandschuhe waren neu, ein Weihnachtsgeschenk; Synne trug wollene Fäustlinge, an denen der Schnee klebte. Rebecca lächelte; sie schwenkten die Arme zwischen sich und waren ganz allein unterwegs.
    »Ist alles gut gegangen?«
    »Erträglich. Er hat sie gegen Mitternacht geholt. Sie waren zum Umfallen müde; wie er für eine zweite Feier noch etwas von ihnen haben will, ist mir ein Rätsel. Aber die Kinder waren zufrieden. Mehr kann ich nicht verlangen. Und du?«
    Synne gab keine Antwort, sie ließ ihre Tasche fallen und rannte los, vorbei an der Buchhandlung Tanum und hinaus auf die Kreuzung, wo vier Ampeln mit blinkenden gelben Augen sinnlose Befehle in die Nacht hinaussandten. Sie ließ sich in den Schnee fallen, drehte sich auf den Rücken und wurde zum Engel.
    »Wunderschön. Hast du so was schon mal gesehen?«
    »Das war wirklich eine gute Idee, Synne. Eine sehr gute Idee.«
    Synne sollte es nicht sehen, und die wachsamen Blicke, die sie in alle Himmelsrichtungen aussandte, waren so blitzschnell, dass Synne nur lachte und sie zu sich hinunterzog, als Rebecca die Hand ausstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
    »Jetzt gehört Oslo uns. Nur uns.«
    Sie lagen auf dem Rücken, hatten die Beine ausgestreckt und die Köpfe dicht beieinander, und sie schauten zu den schwachen Sternen hoch, die sie durch das leichte Schneetreiben ahnen konnten. Ihr Atem zeichnete sich ebenso

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