Mea culpa
Aber für Synnes Mutter galt die Devise, dass Essen niemals schadet, eher im Gegenteil: Essen hält Leib und Seele zusammen, vor allem in harten Zeiten. Vielleicht hing es mit dem Krieg zusammen, mit Muckefuck und Waffeln aus Fischmehl. Andererseits hatte ja wohl auf Seouls Straßen auch nicht gerade Überfluss geherrscht.
»Kinder«, sagte die Mutter plötzlich und blieb stehen, auch wenn Rebecca und Synne keinerlei Anzeichen machten, sich umzudrehen. »Die können seltsam sein. Vor allem in dem Alter.«
Wieder lächelte sie, jetzt etwas breiter, fast neckend, aber an keine von beiden gerichtet; sie starrte aufs Meer hinaus.
»Sie verlangen so viel. Sie tun so viel, was schwer zu verstehen ist.«
Synne hielt den Atem an und konnte – hinter dem Toben von Meer und Luft, die sich miteinander verfeindet hatten – ihren eigenen Herzschlag hören.
»Man glaubt, sie zu kennen, man glaubt, alles getan zu haben, damit sie … ein gutes Leben haben. Oder vielleicht, damit sie uns so ähnlich wie möglich werden. Das wäre in vieler Hinsicht das Beruhigendste. Ich glaube, wir müssen das einfach zugeben: Wir erschaffen sie nach unserem eigenen Bild. Aber sie werden nicht so. Sie leben ihr Leben, auf ihre Weise. Wir merken das schon sehr früh. Vom ersten Tag an, eigentlich, sind sie nicht wir, sie sind etwas Neues und Selbstständiges, schon von Geburt an, auch wenn sie uns so schmerzlich nahe sind. Dann kämpfen wir viele Jahre dagegen an. Und wir können nichts tun, um …«
Jetzt wandte sie sich vom Meer ab, sie kehrte dem Wind den Rücken zu, und die Haare peitschten ihr Gesicht. Wieder schaute sie Rebecca in die Augen.
»Dann verzweifeln wir. Anfangs. Bis wir die Zeit finden, um nachzuhorchen, und feststellen, dass sie trotz allem niemals etwas anderes sein können als unsere Kinder. Komme, was wolle. Egal, was sie auch anstellen. So ist die Liebe. Wir können ab und zu gegen sie ankämpfen, und ab und zu möchten wir sie am liebsten zurückholen. Sie einziehen. Sie wegstecken und die Kinder ihrem Schicksal überlassen. Aber das geht nicht.«
Über ihnen klaffte die Wolkendecke plötzlich weit auseinander. Heftiges Sonnenlicht strahlte für kurze Zeit durch den Regen und zeichnete einen so runden und vollkommenen und farbenprächtigen Regenbogen, dass er unecht wirkte, dort, wo er weit draußen im Meer endete.
»Aber das weißt du ja«, sagte sie lächelnd zu Rebecca. »Du hast ja selbst Kinder.«
Dann ging sie weiter. Rebecca ging dicht hinter ihr. Zuletzt kam Synne, wie ein riesiges Kleinkind, stolpernd und unsicher, in roter Regenhose und blauer Jacke.
»Meine Schwester hat einen Eintopf gekocht«, rief die Frau, die vor ihnen her durch den Wind ging. »Der schmeckt immer sehr gut!«
29
Asha hat ein Geheimnis.
Etwas an ihr sagt es mir. Anfangs hielt ich es für ein Fantasieprodukt, ich schlafe so schlecht, denke so chaotisch; die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit kommt mir ab und zu verschwommen vor, und ich muss mich zusammenreißen und mir klar machen, wo ich bin und was ich hier mache. Aber jetzt bin ich sicher. Die Vermutung liegt natürlich nahe, es könne mit Petters Geschichte zu tun haben, sie hat ja versprochen, sie mir zu erzählen. Vielleicht ist es nicht nur Petters Geschichte, möglicherweise, oder, ja, wahrscheinlich hängt es auch mit ihr selbst zusammen.
Ashas Geheimnis ist das erste, was hier unten meine Neugier geweckt hat. Alles andere habe ich nur registriert. Aber ihr Verhalten, vielleicht auch die Art, wie sie sich verändert hat, seit sie hier angefangen hat, als meine Dienerin sozusagen (ich finde den Gedanken schrecklich, dass ich eine Dienerin habe, aber das ist sie nun einmal), diese Veränderung sagt mir, dass sie etwas zu verbergen hat. Sie hat eine Art Zugriff auf mich, den ich nicht durchschaue, der aber dafür sorgt, dass ich mich manchmal unwohl in meiner Haut fühle und mich dann wieder einer Art Geborgenheit nähere. Sieht sie mich? Ihre Augen sind schwer zu deuten, und ich ertappe mich dabei, dass ich ihren Blicken ausweiche.
Anfangs hat sie viel gelächelt. Yes, ma’am, yes, ma’am. Sehr viel mehr schien sie nicht sagen zu können. Aber das war nun also ein Irrtum. Sie spricht sehr gut Englisch, fast elegant. Sie lächelt nicht mehr so viel, und wenn, dann dämmert mir die Erkenntnis, dass sie mir überlegen ist.
Sie sieht mich an, wenn sie glaubt, dass ich es nicht merke. Das erzeugt durchaus kein Unbehagen, es ist kein böser, kein von Hass oder
Weitere Kostenlose Bücher