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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Zeitpunkt gewesen, Sonntag, in aller Frühe. Hinter keinem Fenster brannte Licht, die Vorhänge waren geschlossen. Das Haus schlief.
    Das Morgengrauen kroch langsam über den Schärengürtel, der grau und winterlich übellaunig hinter dem Fjord lag, als Synne in den Anbau hinüberging. Im Haus wimmelte es nur so von Menschen, und die meisten wollten nicht schlafen. Synne wollte das auch nicht. Sie wollte allein sein.
    Es konnten unmöglich mehr als zwei oder drei Stunden vergangen sein, als die Mutter in der Tür stand:
    »Besuch für dich«, sagte sie und verschwand wieder.
    Es war Rebecca.
28
    Im Winter wirkte der Schärengürtel wie ein anderes Land.
    Im Sommer lag er goldbraun und einladend da, mit Felsrücken und Schären und wunderschönen Bögen in der Landschaft, dazwischen wuchsen Grasbüschel und rosa Strandnelken; er war warm und großzügig, wie eine Frau im besten Alter, die nicht weiß, was sie den anderen alles Gutes tun soll.
    Wie war es möglich, sich dermaßen zu ändern?
    Als Rebecca, Synne und Synnes Mutter die kleine Landzunge erreicht hatten, den letzten Vorposten des Festlandes vor dem Skagerrak, auf der Halbinsel der Großeltern, außerhalb von Kragero, sah der Schärengürtel aus wie eine Hexe. Das Braunrote, Einladende aus allen Sommern in Synnes Leben war grau. Und nass. Das Meer ließ fauchend seinen schmutzigweißen Geifer über die Felsen spritzen, überall war es glitschig. Der Himmel verschmolz mit dem Meer an einem Horizont, der nur schwarz war.
    »Was machen wir mit Opa?«, fragte Synne und wischte sich das Gesicht ab; die Luft war durchtränkt von wütendem Salzwasser.
    »Bis auf weiteres werden wir abwechselnd hier bei ihm wohnen«, sagte die Mutter. »Er muss erst zur Ruhe kommen, ehe wir drastische Änderungen einführen. Danach sehen wir weiter.«
    Sie holte tief Luft, wie um sich zusammenzunehmen, und richtete sich im Wind auf. Der Regenmantel schlug um ihre Beine und machte kleine Knattergeräusche, wütend, fast wie Gewehrschüsse. Sie war barhäuptig, ihre Haare wurden vom Wind nach hinten geweht, und ihr Gesicht wirkte nackter, als Synne es jemals gesehen hatte. Die Mutter bog den Rücken nach hinten, um dem Wind zu widerstehen, und als Synne sie von der Seite musterte, kam sie ihr vor wie eine dort aufgestellte Statue.
    Rebecca hatte auf dem ganzen Weg nichts gesagt. Aber sie war da. Sie versuchte nicht, sich unsichtbar zu machen, im Gegenteil, sie packte sogar Synnes Arm, wenn sie über besonders nasse Steine stiegen. Einmal streckte sie, fast aus einem Reflex heraus, die Hand nach Synnes Mutter aus, als die ältere Frau nach einem heftigen Windstoß zu fallen drohte. Das war nicht durchdacht gewesen, und Synne wusste auch nicht, wie sie die Tatsache deuten sollte, dass die Mutter zögerte, nicht lange, nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie die Hilfe annahm. Sie ließen einander los, sowie sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatten; oder eigentlich unmittelbar davor.
    Die beiden waren nur zehn Jahre auseinander. Synne wusste nicht, was sie voneinander hielten, sie trafen sich hier zum ersten Mal, aufgrund des geheimen Abkommens, dass die Verwandtschaft nicht einbezogen werden sollte, aber Mama wusste es, auf die uralte Weise der Mütter. Aus einem seltsamen Grund kam Synne sich wie das fünfte Rad am Wagen vor; sie war nicht die Brückenbauerin, die sie hätte sein sollen; sie wusste nicht, wie sie vorgehen sollte. Die beiden Frauen waren so verschieden, auch aussehensmäßig; die Mutter viel kleiner, schmächtiger als Rebecca, aber dennoch besaßen sie eine undefinierbare Ähnlichkeit, etwas in den Augen, oder vielleicht im Blick. Sie maßen einander, und das schon seit Stunden, auf eine Weise, die Synne ausschloss. Gleichzeitig ging hier alles um Synne, und sie hatte das Gefühl, vor Hilflosigkeit zu zittern.
    »Was hast du mit deinen Kindern gemacht?«, fragte die Mutter plötzlich und sah Rebecca zum ersten Mal ins Gesicht.
    Rebecca lächelte schwach und strich sich vergeblich die Haare aus der Stirn, ehe sie den Blick erwiderte.
    »Ich habe meinen Ältesten bestochen. Er ist fast sechzehn, und ich habe versprochen, bis elf Uhr heute Abend zurück zu sein.«
    Synnes Mutter schaute auf die Uhr.
    »Dann müssten wir uns eigentlich beeilen«, sagte sie. »Jedenfalls, wenn du vor dem Aufbruch noch essen willst.«
    Essen!
    Zwischen ihnen lagen nur zehn Jahre, aber zugleich ein Meer an Zeit und Erfahrung. Rebecca hätte in einem solchen Moment niemals an Essen gedacht.

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